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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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zeigen.
    »Die Wüstenleute entscheiden darüber, mit wem sie die Geheimnisse der Wüste teilen wollen«, sagte eine Frauenstimme auf englisch aus dem dunklen Hintergrund der Höhle.
    Shan ließ das Medaillon zurückgleiten und zog seine Hand aus der Tasche.
    »Warp!« rief Jakli, als eine Frau ins Licht trat, die ihr langes schwarzes Haar zu einem einzelnen Zopf geflochten hatte. Sie trug eine dicke, schwarzumrandete Brille und war älter und kleiner als Jakli, so daß sie in ihrem viel zu großen grünen Kittel irgendwie verloren wirkte. Es war die Art von Kittel, die ein Arzt oder ein Labortechniker tragen würde.
    »Und die Toten werden sich erheben«, sagte die Frau lächelnd zu Shan. Er stand auf, und sie streckte ihm die Hand entgegen. »Wir haben uns große Sorgen um Sie gemacht«, sagte sie jetzt in fließendem Mandarin. »Abigail Deacon.«
    »Professorin für Kulturanthropologie«, sagte er auf englisch. Sie hatte einen festen Händedruck, und während sie ihn begrüßte, nahm sie ihn genau in Augenschein. Ihre Haut besaß einen olivenfarbenen Einschlag, und ihre leuchtendblauen Augen waren mandelförmig, was auf eine asiatische Abstammung schließen ließ.
    »Shan Tao Yun«, gab die Amerikanerin zurück. »Ehemals in Diensten der chinesischen Regierung.«
    Shan nickte langsam und warf Jakli einen kurzen Seitenblick zu. »Gut«, sagte er. »Wir haben zu wenig Zeit, um uns mit etwas anderem als der Wahrheit abzugeben.«
    »Ist er immer so ernst?« fragte Abigail Deacon und zog die Augenbrauen hoch.
    Jakli lächelte Shan an, der etwas unbehaglich genau zwischen den beiden Frauen stand. »Sophie leckt sein Gesicht ab«, erwiderte sie.
    Die Amerikanerin nickte nachdenklich, als würde sie dies tatsächlich als Argument gelten lassen. Dann putzte sie ihre Brille mit einem Zipfel des Kittels und musterte Shan eindringlich. »Jakli hat erzählt, Sie haben die Chance auf ein neues Leben verspielt, weil Sie hergekommen sind, um uns zu warnen.«
    Shan zuckte die Achseln. »Ich weiß nur eines mit Sicherheit; mir bleibt jetzt eine anstrengende Woche auf der Ladefläche eines Lastwagens erspart.«
    Die Amerikanerin lächelte. »Dann dürfen wir Sie wenigstens herzlich zum Abendessen einladen«, sagte sie, drehte sich um und verschwand wieder in dem dunklen Gang.
    »In seiner Hütte in Karatschuk hat Deacon ein Stück alten Stoff untersucht«, sagte Shan kurz darauf zu Jakli. »Ist seine Frau hier ebenfalls damit beschäftigt?« Den anderen Teil der Frage stellte er nicht. Was hatte Deacon mit einem menschlichen Bein vorgehabt?
    Jakli nickte und putzte ein weiteres Medaillon. »Abigail ist Expertin auf diesem Gebiet. Sie sieht dem Stoff Dinge an, die niemand sonst erkennen würde.«
    »Wieso hier? Warum diese ganze Geheimhaltung?«
    »Der Stoff stammt von hier. Aus der Wüste. Aus den Ruinen. Er läßt sich nicht leicht transportieren. Also ist es besser, ihn vor Ort zu untersuchen.«
    »Aber es gibt doch Museen für Altertümer. In Lhasa. In Urumchi.«
    »Abigails Arbeit ist etwas ganz Besonderes«, sagte Jakli rätselhaft.
    »Sie meinen, die Arbeit ist politisch brisant«, sagte Shan verwirrt. Die Amerikaner hielten sich eindeutig ohne Erlaubnis in China auf. Und nur für ein paar Stücke Stoff würden sie wohl kaum das Risiko eingehen, einem Mann wie Bao in die Hände zu fallen.
    Jakli putzte weiter, ohne zu antworten.
    »Was kann denn an Stoff schon großartig politisch sein?« fragte Shan.
    Jakli legte die Stirn in Falten, blickte jedoch nicht auf.
    »Ich bin hier, um eine Spur zu den Morden zurückzuverfolgen. Und das wird mir nur möglich sein, wenn ich alles verstehe, was mir unterwegs begegnet.«
    Sie bedachte ihn mit einem mürrischen Stirnrunzeln, bedeckte die Schale mit einem alten Handtuch und stand auf, die Schüssel auf ihre Hüfte gestützt. Dann führte sie ihn in den Tunnel, vorbei an dem Gang zu dem Raum, in dem er geschlafen hatte. Sie schob einen dicken Filzvorhang beiseite, gefolgt von einem zweiten, dünneren Stück Stoff, das sich als ziemlich klebrig erwies, als wolle man damit Staub und Insekten abhalten. Schließlich betraten sie einen hell erleuchteten Raum, der halb als Labor, halb als Bibliothek zu fungieren schien. In zwei Reihen standen hier acht provisorische, aus Sägeböcken und Brettern gefertigte Tische. Auf einem davon hatte man kleinere Gestelle und Bretter vor der Wand zu einem Regal aufgeschichtet, in dem mehrere Dutzend Bücher Platz fanden. Außerdem sah Shan zwei Mikroskope

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