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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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heraus, daß dieser Ort namens Sandberg aus einer langgestreckten Sandsteinformation bestand, die mit einer Höhe von etwa sechzig Metern und einer Länge von nahezu einem Kilometer die Ausmaße des Tempelfelsens von Karatschuk bei weitem übertraf. Oben schien es eine Ruine zu geben, einen alten Wachturm aus behauenen Felsblöcken. Shan stieg den Pfad zum Turm ungefähr bis auf halbe Höhe hinauf, setzte sich auf einen Felsen, streckte sich und atmete tief durch. Die Luft war rein und klar, ohne auch nur einen Anflug des Todeshauchs, den sie nur zwei Tage zuvor mit sich gebracht hatte. Weit im Süden schwebte eine lange weiße Linie über dem Horizont. Shan wußte, daß es sich nicht um Wolken, sondern um die Gipfel des Kunlun handelte, wo Gendun in einem Berg saß und wartete.
    Zwei Tage, dachte er. Womöglich hatte der Mörder inzwischen längst ein weiteres Opfer gefunden.
    Als er durch den schmalen, im Schatten versteckten Spalt wieder eintrat, saß Jakli dort über eine Holzschale gebeugt und schrubbte etwas mit einer Messingdrahtbürste. Sie bemerkte Shan erst, als er sich neben sie kniete.
    »Es tut mir leid«, sagte sie und ließ die Bürste sinken. »Ich hätte Sie zurück nach Senge Drak bringen sollen. Ein neues Leben wartete auf sie. Es ist meine Schuld.«
    »Während des Sturms«, sagte Shan nach einem Moment und sah durch die Öffnung hinaus in die Wüste, »als es am Ende schwarz um uns wurde... ich glaube, da habe ich jenes Leben aufgegeben.«
    Sie hob den Kopf und nickte ernst, als würde sie genau verstehen, was er meinte. Als wäre dies der Handel gewesen, den Shan mit den Göttern der Wüste abgeschlossen hatte, der Preis, den er zu zahlen bereit war, um ihrer aller Leben zu retten.
    Er deutete auf die Schale, und Jakli seufzte laut, rieb dann den Gegenstand in ihrer Hand mit einem öligen Lappen ab und hielt ihn Shan entgegen. »Tugendmedaillons«, sagte sie. »Deacon hat sie bei einem der Altäre gefunden.«
    Shan sah, daß ungefähr ein Dutzend Teile in der Schale lagen, manche schmutzverkrustet, andere bereits gesäubert und hell im Licht funkelnd. Das Exemplar auf Jaklis ausgestreckter Handfläche war ein fünf Zentimeter messendes Bronzetrapez mit eingravierten komplizierten Ideogrammen und leicht gerundeten Ecken, die jeweils ein kleines Loch aufwiesen.
    »Für die Kriegermönche«, erklärte sie. »Wir haben in manchen der alten Schriften darüber gelesen. Heutzutage werden Soldaten für ihre Tapferkeit ausgezeichnet. Aber unter den Mönchen der alten Armeen war Tapferkeit selbstverständlich. Dort galt Tugend als höchste Errungenschaft. Vielleicht brachte ein Soldat ein besonderes Opfer für seine Eltern. Vielleicht widmete er sein Leben der Vervollkommnung seiner Kenntnisse im Umgang mit Pfeil und Bogen. Vielleicht verwandte er seine gesamte freie Zeit darauf, die neun Millionen Namen Buddhas niederzuschreiben, oder vollbrachte Großtaten im Namen der Wahrhaftigkeit. Dann verlieh sein General ihm ein solches Medaillon.«
    »Die Stücke müssen viele Jahrhunderte alt sein«, sagte Shan ehrfürchtig.
    »Sie stammen von den tibetischen Truppen, die hier stationiert waren. Vor elfhundert oder zwölfhundert Jahren.«
    »Sie gehören in ein Museum.«
    Dieser Vorschlag rief bei Jakli eine seltsame Reaktion hervor. Entschlossen ballte sie die Faust um das Medaillon. »Nicht unter den Kommunisten«, rief sie wütend, beruhigte sich dann jedoch wieder. »Tugend sollte nicht in einem Museum eingesperrt werden.«
    »Nein«, sagte Shan, ohne recht zu wissen, was Jakli meinte. Er griff in die Schale und nahm zwei der gesäuberten Medaillons heraus. Die Hälfte der Exemplare, darunter alle bereits gereinigten Stücke, war mit Wachsschnur zu Paaren zusammengebunden. Shan hatte zwei Rechtecke in der Hand, deren Oberfläche mit eingravierten Lotusblumen verziert war. Außerdem gab es ein rundes Paar mit Adlerköpfen und ein weiteres mit je einem galoppierenden Pferd.
    »Tante Lau«, sagte Jakli. »Sie hat einmal zu mir gesagt, daß solche Schätze niemandem gehören, sondern wenigen Auserwählten eine Weile anvertraut werden, bis es wie durch ein Naturgesetz an der Zeit ist, sie wieder weiterzugeben.«
    Shan erinnerte sich, daß auch Lokesh in ähnlichen Worten über die Tugend gesprochen hatte. »Aber welchen Weg nehmen sie letztendlich?« fragte er und griff nach Laus Medaillon in seiner Tasche, das ebenfalls zu diesen antiken Auszeichnungen gehörte, wie ihm nun klar war. Er wollte es Jakli

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