Das Auge von Tibet
tausend Jahren eine Feder zwischen die Hände gelegt.
Er lehnte sich zurück. Sein Herz klopfte wie wild. Dann streckte er langsam und ehrfürchtig den Arm aus und zog die Feder weit genug heraus, um sie genauer betrachten zu können. Es handelte sich um eine vertrocknete Eulenfeder, deren Schaft zu einem Viertel völlig blank war und die dennoch fast genauso aussah wie die Feder in Shans gau , die Gendun ihm vor ihrer Trennung gegeben hatte. Er starrte sie an, von Staunen erfüllt. Zeit verging, und er starrte immer noch. Nicht auf die Feder. Auf das Gesicht des Mannes. Auf seine langen zierlichen Finger. Dieser Mann war kein Hirte gewesen, sondern ein Künstler oder vielleicht auch ein Lehrer.
Schließlich nahm Shan die Feder aus seinem gau , zog vorsichtig die Feder zwischen den Händen des Pilgers heraus und legte seine eigene an ihre Stelle. Er war absolut von der Rechtmäßigkeit seines Tuns überzeugt. Dann verstaute er die Feder des Pilgers, die tausendjährige Feder, in seinem gau und schloß sanft die Hände des Mannes, ohne auf die Gefühlswoge gefaßt zu sein, die über ihm zusammenschlug. Seine Hände zitterten. Als er sich beruhigt hatte, stellte er fest, daß sie auf den Händen des Pilgers lagen.
Er schob die Gebetskette des Mannes über das Handgelenk und damit so dicht wie möglich an dessen Finger heran. Dann brach er in Tränen aus, ohne zu wissen, warum.
Kapitel 12
Sie ritten eilig durch die Nacht, drei Kamele auf dem Weg nach Yutian, mit Sophie und Marco an der Spitze. Marco forderte Shan auf, hinter ihm Platz zu nehmen, und obwohl der eluosi während der ersten beiden Stunden schwieg, fing er danach an, Shan von Kamelen und der Schönheit der hochgelegenen einsamen Orte zu erzählen, die er seine Heimat nannte. Kurz vor Einbruch der Dämmerung, als sie die Fernstraße nach Kashi überquerten und Sophie für die letzten Meilen in einen leichten Trab verfiel, stimmte Marco lauthals einige Lieder an: alte Lieder, russische Lieder, die man, wie er behauptete, normalerweise bei Trinkgelagen in langen Winternächten sang.
Die Sonne stand seit einer Stunde über dem Horizont, als sie bei einigen niedrigen Schuppen am Fluß eintrafen, hinter denen sich eine Vielzahl von Viehgehegen erstreckte, beschattet von einer Reihe hoher Pappeln in den goldenen Farben des Herbstes. Die nächstgelegenen Gatter waren alle leer, aber in fünf oder sechs Gehegen am anderen Ende, in ungefähr hundert Metern Entfernung, tummelte sich eine Vielzahl von Pferden. Die Herden der Kasachen wurden zusammengetrieben. Marco band die Kamele im Schatten des ersten Gebäudes an und führte Shan auf eine flache Kuppe. Sie befanden sich am Stadtrand, weniger als sechzig Meter von der Hauptstraße entfernt, die bis zum Marktplatz verlief.
Eine halbe Stunde später näherten Shan, Jakli und Lokesh sich den Wellblechschuppen der Hutfabrik. In der Nähe des Eingangstors standen und saßen zahlreiche Arbeiter, und als sie das Gelände betraten, rief jemand Jaklis Namen. Auf einer nahen Bank saß Akzu mit einem seiner Söhne und rauchte. Ihre Finger waren purpurrot verfärbt.
»Du machst Hüte?« rief Jakli erstaunt aus.
»Aber natürlich. Wundervolle Hüte«, erwiderte er und nickte Shan und Lokesh zu. »Ich wollte das schon immer mal versuchen, liebe Nichte«, sagte er und schaute auf seine befleckten Hände. »Vielen Dank für die Gelegenheit.«
»Aber wieso.«, setzte Jakli an und verstummte sogleich wieder. Sie hatte erkannt, daß die beiden ihre Abwesenheit deckten.
»Es hat keinen Sinn, ein unnötiges Risiko einzugehen, nicht so kurz vor dem nadam. Der Leiter hier ist Kasache. Er sagt, er wird bei Nachfrage niemanden schützen können, aber solange die Produktion über dem Soll liegt, werden nicht allzu viele Fragen gestellt«, erklärte Akzu, stand auf und streckte sich. »Zumindest solange die Einsatzkommandos nicht herkommen.« Er blickte zu einer Frau, die am Eingang des Hauptgebäudes erschien und ein Klemmbrett in der Hand hielt. »Da drinnen gibt es Anwesenheitszettel für die Arbeiter, Nichte. Geh hin und unterschreib ein paar.«
»Aber die zheli ...«, wandte Jakli ein.
Akzu gebot ihr mit erhobener Hand Einhalt und schaute sich argwöhnisch um, bevor er leise antwortete. »Der Clan sucht auch weiterhin nach ihnen. Und nach Malik. Wir können ihn nicht finden. Zuletzt hat man ihn gestern eine Straße entlanggaloppieren gesehen, als würde er jemanden verfolgen.« Sein Blick richtete sich auf den südlichen
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