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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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würde doch bestimmt alles in seiner Macht Stehende tun, um dem ein Ende zu bereiten«, vermutete Shan.
    Hu nickte feierlich. »Zuerst habe ich versucht, sie zu warnen. Ich bin jetzt seit fünfunddreißig Jahren Lehrer. Ich war auf der Universität von Urumchi. So wird das nicht gemacht, habe ich zu ihr gesagt. Sie war ohne jede pädagogische Ausbildung. Was sie tat, hat nie irgendwelchen Richtlinien entsprochen.«
    Shan sah auf das Gerät in der Hand des Mannes. »Inzwischen hat sich manches verändert«, sagte er. Im Lager Volksruhm gab es Kartons mit dem gleichen Logo. Direkt daneben hatte Shan einen toten Amerikaner gefunden. Und dann waren ihm ebensolche Kisten bei Osman in Karatschuk aufgefallen. Hatte Osman die Kriecher bestohlen? Nein. Nicht die Kriecher verteilten diese Geräte, sondern die Brigade, und sie bediente sich dabei aus den Vorräten der Kriecher, obwohl jedermann beharrlich versicherte, Ko und Bao würden niemals zusammenarbeiten.
    Hu folgte Shans Blick. »Von Direktor Ko! Es gehört zu dem neuen Prämienplan. Schlechtes Verhalten wird auch weiterhin bestraft, aber zusätzlich gibt es jetzt Belohnungen für die aufrichtigen Bürger.«
    Kaju besaß ebenfalls eines dieser Geräte. Es lag in der verschlossenen Plastiktüte auf dem Fensterbrett. Er nahm es. »Die Waisen«, sagte der Tibeter. »Alle Waisen, die wieder am Unterricht teilnehmen und sich unserem neuen Programm anschließen, werden einen CD-Player erhalten. Sie.« Er wurde durch ein lautes Summen unterbrochen, das aus den Lautsprechern im Gang ertönte.
    Hu stand abrupt auf. »Mein Unterricht fängt an«, verkündete er und holte aus einer Schublade eine Baseballmütze hervor. »Politische Geschichte.« Er setzte die Mütze auf, zog sich den Schirm tief ins Gesicht und musterte Shan und Kaju, als wolle er sie zum Gehen auffordern.
    »Wir brauchen nur noch ein paar Minuten«, versicherte Shan. »Wegen der Ermittlungen.«
    Der Mann nickte ernst und eilte aus dem Zimmer.
    Kaju Drogme sah erst Shan und dann den CD-Player in seiner Hand an. Er zuckte die Achseln. »Diese Kinder«, sagte der Tibeter und klang dabei ein wenig verlegen. »Sie wissen ja kaum, was Radios sind. Allenfalls haben sie in der Stadt schon mal einen Kassettenrekorder gesehen. Aber falls sie später in einer größeren Stadt leben sollten, könnten sie sich eines Tages womöglich sogar eine CD kaufen, um sie mit diesem Gerät abzuspielen.«
    »Sofern sie Geld hätten«, fügte Shan hinzu.
    Kaju lächelte matt, als wolle er sich bei Shan bedanken, daß dieser seinen schlechten Scherz verstanden hatte. »Ich habe Freunde in Chengdu«, sagte er, ohne den Blick von dem CD-Player abzuwenden. »Vielleicht könnten sie mir ein paar alte CDs schicken.« Er zuckte abermals die Achseln und sah Shan an. »Sie waren neulich bei der Werkstatt. Als der Tibeter mich gewarnt hat, daß jemand die Kinder ermordet.«
    »Was hat Ko mit den Waisen vor? Wieso diese Eile?«
    »Nicht Waisen«, sage Kaju. »Es gab einen Rundbrief. Wir sollen sie als Aufstrebende Mitglieder bezeichnen.«
    »Mitglieder wovon?«
    Kaju zögerte. »Das stand nicht in dem Brief. Mitglieder der Schule, der Gesellschaft, des Sozialismus.« Er zuckte zum drittenmal die Achseln. Die Geste schien typisch für ihn zu sein. »Gemäß den neuen Richtlinien der Brigade verteilt Ko an jedermann Belohnungen. Das war nicht allein seine Idee, sondern kam aus Urumchi, aber Ko möchte, daß dieser Bezirk die Führungsrolle der Initiative übernimmt. Falls ich es schaffe, alle Kinder innerhalb der nächsten beiden Wochen zurückzuholen, bekomme ich dafür eine besondere Wohnung zugewiesen, wie sie sonst den Brigadeleitern vorbehalten bleibt. Außerdem Nutzungsrecht für den Fuhrpark. Und einen Titel: Direktor für Wirtschaftsangleichung.«
    »Wirtschaft?«
    Kaju nickte. »Er sagt, die Integrationsprogramme seien bislang vor allem deshalb fehlgeschlagen, weil sie stets auf politische Aspekte beschränkt blieben. Kaum jemand würde begreifen, daß man auf wirtschaftlicher Ebene viel eher eine Annäherung der Menschen bewirken könne. Nutze die gemeinsamen kulturellen Anliegen, um daraus gemeinsame Wirtschaftsinteressen zu formulieren und die Leute dadurch zu vereinen. So definiert Direktor Ko meine Aufgabe. Er sagt, die Brigade sei das beste Beispiel dafür. Ein Unternehmen, zu dessen Anteilseignern Han-Chinesen, Kasachen, Uiguren, Kirgisen, Tadschiken, Sibo, Hui und vermutlich noch zehn weitere Kulturgruppen gehören, die alle

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