Das Auge von Tibet
sind in Gefahr. Der Mörder ist vielleicht hinter ihnen her. Genau in diesem Moment.«
Mittlerweile war der Himmel tiefschwarz. Über ihnen zirpte eine Grille zwischen den Felsen. Lokesh holte sich eine weitere Tasse Tee und setzte sich wieder in die Dunkelheit, als würde er auf etwas lauschen. Dann meldete er sich vom Rand des kleinen Kreises unerwartet zu Wort, ohne den Blick vom Wüstenhimmel abzuwenden. »Es heißt, der Jadekorb könne verschwinden, wenn etwas Böses sich nähert.«
»Was meinst du damit, Lokesh?« fragte Jakli.
Doch selbst wenn die Äußerung des alten Tibeters für die Ohren der anderen bestimmt gewesen war, wovon niemand mit Sicherheit ausgehen konnte, befand er sich nun wieder im stillen Zwiegespräch mit den Sternen.
Shan bemerkte, daß Marco weggegangen war. Er drehte sich um und sah den eluosi auf einem hohen Felsen oberhalb des Eingangs stehen, von wo aus er weit in die Wüste hinausblicken konnte. Der eluosi hielt tatsächlich angestrengt Ausschau. Es ging um seinen Sohn Nikki, der mit einer Karawane Güter über die Grenze schmuggelte, begriff Shan. Nikki, der Jaklis Leben auf ewig verändern würde. Shan sah, daß auch Jakli von Marco Notiz genommen hatte. Einen Moment lang folgte sie seinem Blick in die Finsternis und wandte sich dann schnell wieder zu den anderen um.
»Meine Cousins und die Maos werden nicht alle finden. Wir müssen dort sein, um sie zu warnen«, verkündete Jakli drängend. »Das Treffen am Steinsee soll in fünf Tagen stattfinden. Kaju wird an Laus Stelle dort erscheinen.« Sie schaute zu Shan. Sie hatten kein Fahrzeug mehr, erkannte er. Sie waren in der Wüste gestrandet.
»Dieser Tibeter?« fragte Najan. »Er ist einer von denen. Er arbeitet für Ko. Für das Armutsprogramm. Wer würde die zheli besser in eine Falle locken können als ihr eigener Lehrer?«
Diese Worte schienen ein drückendes Schweigen nach sich zu ziehen, nicht unähnlich der Windstille, die Shan vor dem schrecklichen Sandsturm verspürt hatte.
»Nein«, sagte Jakli zögernd. »Die Brigade ist nur an Geschäften interessiert. Hinter all dem müssen die Kriecher stecken. Oder Xu.«
»Die anderen Jungen müssen jedenfalls beschützt werden«, sagte Deacon mit schwerer Stimme. »Sie sind in größerer Gefahr als Micah.«
»Ein Junge namens Batu«, sagte Shan in Richtung des Nachthimmels. »Er steht als nächster auf der Liste.«
Marco kehrte zurück, den Blick weiterhin auf die Wüste gerichtet. Er goß sich einen Becher Tee ein, trank das meiste davon auf einen Zug aus und schüttete den Rest in den Sand. »Es ist eine klare Nacht. Wir können uns anhand der Sterne orientieren. Ich breche in drei Stunden ins Gebirge auf. Sophie und ich begleiten euch bis zur Stadt. Dort sind die Maos. Sie können euch einen Lastwagen besorgen.«
»Ich würde vorschlagen, wir schlafen vorher ein wenig«, sagte Jakli. Sie ging zu Lokesh und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Der alte Tibeter wandte den Kopf. Seine Miene verriet, daß er noch immer tief in Gedanken versunken war. Trotzdem stand er auf und ließ sich schweigend von Jakli ins Innere führen.
Shan war nicht nach Schlaf zumute. Er hatte bereits zwei volle Tage verschlafen. Also half er den anderen, die Kochutensilien in einer der Zellen zu verstauen, die als behelfsmäßige Küche diente, und ging dann zu den Wandgemälden. Lokesh hatte recht, Shan spürte es auch. Noch nie hatte er sich an einem Ort befunden, der in ihm eine dermaßen starke Verbundenheit mit der Vergangenheit erweckte. Es war mehr als ein bloßes Geschichtsbewußtsein und ließ sich nicht annähernd mit dem distanzierten Gefühl vergleichen, das beispielsweise durch die Schaukästen eines Museums vermittelt wurde. Es entsprach eher der direkten und tiefen Empfindung von Kontinuität, dem Fortbestand des großen Zyklus des Lebens. Nein, vielleicht war es eher der Zyklus der Wahrhaftigkeit, den er empfand. Oder womöglich war es noch einfacher. Er erkannte, daß Menschen schon immer Gutes getan hatten und daß allein diese guten Taten überdauerten, nicht die Menschen.
Aber Shan war sich nicht mehr sicher, was als gute Tat gelten konnte. Er hing in der Schwebe und wußte nicht, wie er die sterbenden Jungen retten sollte. Seine Freunde schienen Geheimnisse zu haben, die sie nicht teilen konnten. Seine Feinde waren überall und doch unmöglich zu identifizieren. Und die Regierung seines Landes würde ihn am liebsten wieder hinter Gefängnismauern sehen.
Er nahm eine
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