Das Auge von Tibet
Öllampe, ging nach draußen und stieg den schmalen Pfad bis zum Gipfel des Berges hinauf. Dort legte er sich auf einen flachen Felsen und verschmolz für einige Minuten mit den Sternen, bevor er die kleine Lampe entzündete und seinen Notizblock und den Bleistift hervorholte.
Lieber Vater, schrieb er, ich habe einen Ort aus einer anderen Welt gefunden und dort Freundschaft mit einem tausend Jahre alten Mann geschlossen. Er hätte hierfür eigentlich Tintenstein und Pinsel benutzen sollen und schämte sich, daß ihm nur sein Block und ein Bleistiftstummel zur Verfügung standen. Nun erwartet jedermann Antworten von mir, doch statt dessen scheinen die persönlichen Tragödien und Sorgen der anderen, ob gegenwärtig oder zukünftig, ihre Schatten vorauszuwerfen. Ich ziehe immer mehr Kummer auf mich, bis ich im Zentrum all dieser Schatten und damit am dunkelsten aller Orte stehe.
Ich reise, jedoch ohne Ziel. Ich habe keine Familie. Ich habe kein Zuhause, nach dem ich mich sehnen könnte. Ich kann mich nur nach der Sehnsucht sehnen. So hätte ich mir mein Leben nie vorgestellt, Vater, als wir beide den Enten Gedichte geschrieben haben.
Komm näher, Vater. Betrachte die Sterne mit mir.
Er las es zweimal und unterzeichnete dann. Xiao Shan. Kleiner Shan. So hatte sein Vater ihn genannt.
Shan hätte gern Bambussplitter und Wacholderzweige gehabt, um genau die Art von Duftfeuer zu entzünden, mit dem sich Geister anlocken ließen. Doch er mußte ohne diese Dinge auskommen. Also sammelte er ein paar vertrocknete Äste der kahlen Büsche ein, die zwischen den Felsen wuchsen, und schichtete sie zu einem kleinen dichten Stoß auf. Dann nahm er ein leeres Blatt Papier, faltete daraus einen Umschlag, schrieb den Namen seines Vaters darauf und legte den Brief auf die Zweige. Es war eine bescheidene Opfergabe. Er hätte Reispapier nehmen und zunächst eine Stunde lang den Rhythmus der Ideogramme üben müssen, bevor er sie mit kühnem und kraftvollem Schwung niederschrieb, wie sein Vater es ihn gelehrt hatte. Vergib mir diesen Makel, Vater, sagte er in seinem Herzen und entzündete das Feuer mit der kleinen Lampe.
Die Asche stieg zum Himmel empor. Einen flüchtigen Moment lang schwebte sie quer über den Nördlichen Scheffel, dann war sie verschwunden.
Erst sehr viel später kehrte Shan in die Höhle zurück. Die Gänge waren still. Sogar die Kamele schliefen. Mit seiner kleinen Lampe in der Hand begab er sich in die Zelle des alten Pilgers und nahm neben ihm Platz. Vorsichtig schlug er die Decke beiseite, so daß er die Hände des Fremden und auch den abgewetzten Stoff über den Knien sehen konnte, der so typisch für einen Pilger war. Mehr als je zuvor schien der Mann lediglich zu schlummern. Bisweilen erweckte das flackernde Licht den Eindruck, sein Mund würde sich bewegen. Derselbe karaburan, der Shan beinahe getötet und ihm die Reise in ein neues Leben unmöglich gemacht hatte, war für die Entdeckung des Toten verantwortlich. Jetzt würden die Wissenschaftler ihre Proben entnehmen und den Mann danach wieder in der Wüste bestatten, so daß er in tausend Jahren vielleicht durch einen neuerlichen Sturm wieder zum Vorschein kam. Als Botschafter. Oder immer noch als Pilger, der wichtigen Orten der Tugend seinen Besuch abstattete, um andere quer durch die Jahrhunderte zur Achtsamkeit zu mahnen, hätte Gendun gesagt.
»Mein Name ist Shan Tao Yun«, flüsterte Shan nun der stummen Gestalt zu. »Ich wurde vor mehr als vier Jahrzehnten in der Provinz Liaoning in der Nähe der Küste geboren.« Die Worte kamen einfach so über seine Lippen, ganz plötzlich, ohne bewußte Anstrengung. »Als ich noch sehr klein war, haben wir an Festtagen immer süße Reiskuchen angefertigt und zum Tempel gebracht. Aber manchmal habe ich einen davon gegessen, wenn meine Eltern gerade nicht hinschauten. Sie haben es nie bemerkt.« Er redete weiter und erzählte von Ereignissen, die ihm erst in jenem Moment wieder einfielen, von seinen vergessenen Cousins und der Art, wie seine Mutter den Ziegen Opernlieder vorsang, nachdem man sie beide in ein Arbeitslager geschickt hatte.
Die Hände des Fremden waren wie zum Gebet gefaltet. Shan sah, daß etwas zwischen den Handflächen lag und nur ein kleines Stück herausragte. Vielleicht ein Grashalm. Shan beugte sich mit der Lampe vor. Dabei stieß er gegen den Arm, so daß die obere Hand sich ein winziges Stück hob. Als Shan den Gegenstand sah, stockte ihm der Atem. Eine Feder. Man hatte dem Mann vor
Weitere Kostenlose Bücher