Das Auge von Tibet
Horizont. »Ich kehre heute abend in die Berge zurück. Einer deiner Cousins wird bis zum nadam hierbleiben.«
Von einer nahen Bank ertönte ein leises Stöhnen. Dort saß ein alter Mann mit einem langen herunterhängenden Schnurrbart und starrte auf ein Stück Papier in seiner Hand.
»Das geht schon seit gestern so«, sagte Akzu. »Er kam her und hat den Leiter um eine Erklärung gebeten, wo seine Schafe geblieben sind. Er dachte wohl, das Blatt wäre eine Art Landkarte oder Wegbeschreibung zu einer Weide.«
»Seine Schafe?« fragte Shan.
»Das da ist ein Anteilsschein der Brigade«, erläuterte Akzu verbittert. »Er hat seine Schafe bei der Brigade abgeliefert und dafür lediglich dieses Stück Papier erhalten. Sechzig Jahre mit seiner Herde und jetzt bloß noch ein Zettel.«
Als Jakli einen Schritt auf den Mann zuging, als wolle sie ihn trösten, nahm Akzu sie beim Arm und führte sie zum Tor der Fabrik. Ihr Blick blieb auf den traurigen alten Hirten gerichtet.
Zehn Minuten später hatten Shan und Jakli das Schulgelände erreicht. An dem bröckelnden Betonpfosten der Zufahrt lehnte ein struppiger Besen. Lokesh nahm ihn.
»Sauberkeit ist eine vernachlässigte Tugend«, sagte er zwinkernd. Shan nickte lächelnd. Lokesh würde am Tor wirten und aufpassen.
Im Schatten des Eingangs blieben Shan und Jakli stehen und hielten nach Anzeichen der Kriecher Ausschau. Da sie nichts Verdächtiges bemerkten, eilten sie durch den leeren Korridor zu Laus Büro. Dort suchten sie erneut nach weiteren Informationen über die zheli . In ihrem Schreibtisch. Im Computer. An der Unterseite der Schubladen. Nichts. Seit ihrem letzten Besuch hatte man einige der Fotos entfernt und manche davon einfach abgerissen, so daß noch ein paar Reste an der Wand hingen. Jemand anders war ebenfalls hierher zurückgekehrt, um etwas zu suchen. Aber was? Das Foto des Dalai Lama, das Jakli beim letztenmal mitgenommen hatte? Sie machte sich auf den Weg in die anderen Gebäude, weil sie die Schüler in den Klassenzimmern nach etwaigen Hinweisen auf die vermißten Kinder der zheli befragen wollte. Nachdem sie gegangen war, stellte Shan fest, daß im gegenüberliegenden Büro Licht brannte.
Er ging zu der Tür, die einige Zentimeter offenstand, und warf abermals einen Blick auf das kleine handgeschriebene Schild.
Religion ist Opium für das Volk. Er schaute zurück. Immer wenn Lau ihr Büro verlassen hatte, mußte das Schild sich genau vor ihr befunden haben. Von drinnen waren Stimmen zu hören. Als Shan die Tür aufstieß, sah er zunächst den kleinen dicken Mann, den er bereits im Reislager kennengelernt hatte. Komiteevorsitzender Hu trug heute einen ausgebeulten braunen Strickpullover und saß, zur Rückwand des Büros gewandt, auf der Kante seines Schreibtisches, während er in begeistertem Tonfall auf einen hochgewachsenen schlanken Mann einredete, der dort an der Fensterbank lehnte. Kaju Drogme.
Die beiden hielten inne und sahen Shan an, als dieser das Büro betrat. Der Han-Chinese hielt etwas in der Hand, das er Kaju soeben zu erklären schien - ein flaches, glänzendes graues Kästchen mit gerundeten Ecken, an dessen Rückseite ein Kopfhörer eingesteckt war. Der Mann hob fragend die Augenbrauen, aber sein strahlender Gesichtsausdruck veränderte sich nicht.
Shan nickte Hu zu. »Ich sehe mir nur noch mal Laus Büro an«, sagte er.
Hu schien nicht nur keineswegs überrascht zu sein, sondern wirkte geradezu dankbar, als sei die Bemerkung eine Aufforderung gewesen. »Ein Selbstmord, das habe ich doch gleich gesagt«, rief er seltsam fröhlich. »Ganz eindeutig ein Selbstmord. Sie war in Ungnade gefallen und hatte ihren Sitz im Rat verloren. Ihr Ruhestand lag nicht mehr fern, und sie hatte weder eine Perspektive noch eine Familie.«
Shan trat näher. Das Kästchen war irgendein Abspielgerät für Musik. Auf dem Deckel sah er das Markenzeichen einer japanischen Firma, und auf dem Schreibtisch lagen ein Plastikbeutel und eine Bedienungsanleitung.
»Genau einen Tag vorher kam Genosse Ko zu ihr und sagte, sie sei jederzeit in Urumchi willkommen. Dort gäbe es ein großes Gebäude, ein richtiges Hochhaus nur für Bürger im Ruhestand. Eine ganze Reihe unserer Revolutionshelden leben dort und halten jede Woche Reden über die Befreiungskämpfe. Ko sagte, er würde nach Urumchi fahren, und sie solle ihn begleiten, um sich das Haus einmal anzusehen. Auf Kosten der Brigade.« Hu schüttelte den Kopf und schaute von Shan zu Kaju und wieder zurück.
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