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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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»Aber Lau wollte nicht. Sie hat sich aufgeführt, als hätte Direktor Ko ihr einen Tritt verpaßt. Dann mußte sie sich hinsetzen, so sehr war sie außer Atem. Ach, sie war viel zu altmodisch.« Er senkte seine Stimme und beugte sich zu Shan. »Sie hat sich zu sehr isoliert und sich dadurch von der sozialistischen Gemeinschaft entfernt. Eine unterschwellige Reaktionärin.« Er nickte wissend. »Gehen Sie, habe ich gesagt. Erkennen Sie denn nicht, was dieses Angebot bedeutet? Man bietet Ihnen eine Rehabilitierung an. Das habe ich denen im Lager auch gesagt und alles für sie aufgeschrieben.«
    Jetzt, da sein Aufenthalt im Reislager hinter ihm lag, war Hu weitaus geschwätziger als zuvor. Er hatte eine Geschichte zu erzählen und außerdem seine Stelle zurückbekommen. Bei dem Zusammentreffen im Lager Volksruhm hatte er Shan gegenüber noch behauptet, es gäbe über Lau nichts Besonderes zu berichten. Doch Anklägerin Xu hatte ihn eine Weile schmoren lassen, um ihm Zeit zum Nachdenken zu geben.
    »Es ist Ihnen also gelungen, das Lager Volksruhm zu verlassen«, stellte Shan fest. »Das ist wirklich kein geeigneter Ort für einen Mann wie Sie.«
    Hu nickte energisch. »Es wurde langsam unerträglich. Wie in einem Irrenhaus, das von den Patienten übernommen wird.«
    »Wie meinen Sie das?«
    »Das lag nur an diesen Männern, diesen Verrückten, die für Unruhe gesorgt haben.«
    »Unruhe?« fragte Shan.
    »Einer dieser verdammten Spinner ohne Daumen. Na ja, eigentlich nicht er - er hat bloß übersetzt.«
    Shan sah die beiden Männer verwirrt an.
    »Dieser senile alte Sibo konnte sich irgendwie mit dem Daumenlosen verständigen. Eines Morgens um drei hat man sie alle im Kreis auf dem Boden hockend vorgefunden, die gesamte Baracke. Der Daumenlose und der Sibo saßen vor den anderen und leierten im Singsang die politischen Parolen herunter, die man ihnen am Vortag beigebracht hatte. Als der zuständige Offizier hereinstürmte und nach einer Erklärung verlangte, hat der alte Sibo sich mit Hilfe des anderen Mannes dazu geäußert. Er sagte, dieser besondere Pfad zur Erleuchtung, der hier im Lager gelehrt werde, sei ihm leider nicht vertraut, und daher sei es wichtig, durch dauernde Übung Perfektion zu erlangen, da die Erleuchtung stets oberstes Ziel bleiben müsse. Danach waren alle aus dieser Baracke wie verwandelt. Sie blieben gehorsam und höflich und haben ständig wie Idioten gegrinst. Der Offizier war wütend, aber die Gefangenen verstießen damit gegen keine Vorschrift. Der Sibo wurde ab diesem Zeitpunkt von den anderen getrennt und durfte nur allein umherwandern. Meistens saß er am Bett irgendeines Mongolenjungen, der nicht laufen konnte.«
    Shan seufzte. Er erinnerte sich daran, den Wasserhüter neben dem Fahnenmast gesehen zu haben. Vielleicht erhöhte es wenigstens seine Chance auf Rettung, wenn der alte Mann sich frei auf dem Gelände bewegen durfte. Shan hatte sich geschworen, zum Lager Volksruhm zurückzukehren und eine Flucht des alten Tibeters zu ermöglichen, sobald alle Jungen in Sicherheit waren. Er bemerkte, daß Kaju den chinesischen Lehrer verblüfft anstarrte.
    »Soll das heißen, ein Lama befindet sich im Lager?« fragte Kaju.
    Hu lachte. »Nein, kein verdammter Lama. Bloß ein verrückter Sibo.«
    Kaju beugte sich vor und schien den Mann eines Besseren belehren zu wollen, doch dann zuckte er die Achseln und sah auf seine Hände hinab.
    »Was haben Sie damit gemeint, daß Ko anbieten würde, Lau zu rehabilitieren?« fragte Shan.
    »Ko wird so oft mißverstanden. Er hat wirklich nur die besten Absichten. Genosse Direktor Ko hat Lau auf seine Weise mitgeteilt, daß man ihr all die unerlaubten Lehrstunden und Veruntreuungen verzeihen würde. Nehmen Sie diese Ruhestandswohnung an, habe ich gesagt. Es gibt dort Aufzüge. Und Fernsehen.«
    »Was für Veruntreuungen?« fragte Shan. Kaju lehnte noch immer am Fenster und bedachte den chinesischen Lehrer mit einem unschlüssigen Blick.
    »Die unbefugte Nutzung von Fahrzeugen des Bildungsministeriums. Dann hat sie Papier und Bleistifte des Ministeriums aus der Schule mitgenommen. Nahrungsmittel aus der Schulküche. Ganz zu schweigen von dem nicht genehmigten Lehrplan oder der Förderung religiöser Praktiken.«
    »Der Vorsitzende Mao hat uns gelehrt, wachsam zu sein«, verkündete Shan formelhaft. »Er hat uns vor der Religion gewarnt.«
    »Genau!« pflichtete Hu ihm bei und drehte sich mit triumphierendem Lächeln zu Kaju um.
    »Ein guter Bürger wie Sie

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