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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Jungennamen.
    »Das ist seine ganze Logik?« fragte Marco skeptisch, als halte er nicht viel von Shans Entdeckung. »Er hakt einfach die Liste ab?«
    »Er hat es bei Suwan versucht, und als der nicht hatte, was der Mörder wollte, fing er oben auf der Liste an.«
    Abigail Deacon keuchte erschrocken auf und umschlang das Bein ihres Mannes mit festem Griff. »Micah!« rief sie besorgt und deutete auf einen Namen in der Mitte der Liste. Der vierte Junge von oben. Nach Kublai kam ein Junge namens Batu, dann Micah Karatschuk.
    »Ihr könnt jetzt nicht zu ihm«, warnte Marco die Amerikaner. »Vielleicht warten die Kriecher nur darauf. Sie beobachten jeden Winkel. Wahrscheinlich haben sie deshalb nicht auf den Mord an Sui reagiert - sie hoffen, daß ihr aus eurem Versteck kommt. Ihr fallt zu sehr auf. Man würde euch in den Bergen sehen und melden. Und dann wäre Micah..« Marco zuckte die Achseln. »Ihr müßt um seinetwillen bleiben, wo ihr seid.«
    Deacon nickte. »Wir haben uns den Namen ausgedacht«, flüsterte er, ohne den Blick von der Liste abzuwenden, und fing dann an zu erklären, weshalb sie beschlossen hatten, ihren Sohn in Laus Obhut zu geben. Kurz nach ihrer Ankunft in der Wüste war klargeworden, daß die Höhle im Sandberg sich nicht für einen zehnjährigen Jungen eignete. Bei einem Reiterfest im Frühling hatte Micah einige Angehörige der zheli kennengelernt, darunter auch Khitai. Wie die meisten der Kinder beherrschte Micah Mandarin und schnappte schon bald genug von der Turksprache auf, um sich auch damit verständlich zu machen. Er liebte Tiere. Die zheli schien wie für ihn geschaffen zu sein. Lau und die Nomaden würden sich gut um ihn kümmern. »Und außerdem ist er ein so durchtriebener kleiner Bengel, daß die Disziplin der Hirtenlager ihm bestimmt nicht schaden dürfte«, sagte Deacon, um seine Frau ein wenig aufzuheitern. »Er ist ganz begeistert. Bislang ist er schon bei vier Familien gewesen.«
    »Lau wußte davon?« fragte Shan.
    »Es war sogar ihre Idee. Aber den anderen hat sie nichts davon erzählt. Für die war Micah bloß ein kasachischer Junge aus einer entlegenen Ecke Xinjiangs. Mehrere der Kinder sprachen zunächst nur Mandarin, weil sie in Schulen der Regierung groß geworden waren, also fiel es nicht weiter auf, daß auch er den Dialekt der Clans nicht beherrschte.«
    »Demnach wußte kein anderes der Kinder Bescheid?« fragte Shan.
    »Anfangs schon. Aber Sie wissen ja, wie Zehnjährige sind. Lau hat uns letzten Monat erzählt, daß Micah mit seinen Eltern geprahlt und dann während einer Schulstunde ein Glas amerikanische Erdnußbutter herumgereicht hat. Wir wußten nicht, daß er eines eingesteckt hatte. Und als ich ihn dann besuchen kam, hat er mich mit drei von seinen Freunden überrascht. Ich mußte ihm versprechen, daß wir vor unserer Abreise aus Xinjiang noch ein paarmal in den Unterricht kommen würden, um von unseren Entdeckungen zu berichten.«
    Shan starrte Deacon einen Moment lang an. Die Amerikaner wollten bald abreisen. Hatte der Mörder der Jungen davon erfahren und sich zu einem hastigen Eingreifen genötigt gesehen?
    »Er hat ein paar wirklich gute Freunde gefunden, bessere Freunde als in Amerika«, fügte die Mutter des Jungen hinzu. »Vor allem Khitai. Micah hat gefragt, ob Khitai zu unserem Mondfest mitkommen dürfe, um den Sängern zu lauschen.« Erleichtert stellte Shan fest, daß sie nicht länger besorgt klang. Sie war zu dem Schluß gekommen, daß ihr Sohn sich in Sicherheit befand.
    »Steinsee«, sagte Deacon. »Die nächsten beiden Klassentreffen finden beim Steinsee statt. Im Herbst hat Lau die Kinder immer dorthin mitgenommen.«
    »Falls Micah überhaupt kommt«, sagte Jakli. »Die Clans wurden gewarnt. Manche der Kinder bleiben vielleicht in ihren Gebirgsverstecken.«
    »Die Leute, bei denen Micah jetzt ist, leben so versteckt, wie man es sich nur vorstellen kann«, sagte Deacon und sah seine Frau an. »Es ist kein Clan, sondern bloß zwei Männer, eine Frau und zwei Kinder. Ihnen wurde weder ein bestimmtes Stück Land zugewiesen, noch stehen sie sonstwie in Kontakt mit der Brigade. Die anderen Kinder wissen nicht, wo sie sind. Nicht einmal Lau hat all ihre Verstecke gekannt. Bis zum Einbruch des Winters bleiben sie hoch oben, dicht unterhalb der Eisfelder. Lau sagte, wir könnten davon ausgehen, daß Micah weder uns noch sonst jemanden zu Gesicht bekommen wird, außer bei den Treffen der Klasse.«
    »Aber die anderen«, sagte Jakli verzweifelt. »Sie

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