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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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erfolgreich zusammenarbeiten. Niemand unterscheidet zwischen chinesischen und kasachischen Eignern. Es zählt nur, daß sie beteiligt sind.« Der tibetische Lehrer schaute wieder auf den CD-Player. »Das hier ist lediglich keine geeignete Belohnung, mehr nicht. Ko möchte den Kindern wirklich aufrichtig helfen, ihren Weg in die neue Gesellschaft zu finden. Seine Begeisterung wird manchmal mißverstanden. Ich werde mit ihm sprechen. Vielleicht neue Sättel. Vielleicht sogar Fohlen aus dem Brigadebestand. Fohlen wären perfekt.«
    »Nicht unbedingt«, gab Shan zu bedenken. »Ich dachte, Pferde seien als reaktionär verschrien. Die Kriecher sollen alle Tiere in Gewahrsam nehmen.«
    Das Gesicht des Tibeters umwölkte sich, und er zuckte erneut die Achseln. »Sie verstehen Ko einfach nicht. Er will Gutes tun. Vor ein paar Tagen hat er ganz aus eigenem Antrieb ein neues Kinder-Gesundheitsprogramm ins Leben gerufen.«
    »Gesundheitsprogramm?«
    Kaju nickte energisch. »Eine zusätzliche Unterstützung aus den Mitteln der hiesigen Brigade für die Säuglingsstation der Klinik. Ko sagt, auf diese Weise ließe sich Vertrauen schaffen.«
    Shan betrachtete ihn verwirrt. Konnte es sein, daß er sich tatsächlich in Ko getäuscht hatte? Immerhin war dieser Mann ein Geschöpf der neuen Wirtschaftslehre, ein Gebiet, auf dem Shan sich überhaupt nicht auskannte. »Sie sagen, es habe ein Rundschreiben aus Urumchi gegeben?« fragte er.
    »Ja, wegen der Geschenke. Ko hat heute jedem Lehrer eine Kopie auf den Tisch legen lassen.« Er sah Shan an, und seine Fröhlichkeit verschwand. Dann blickte er kurz zur Tür, als wolle er sichergehen, daß ihn niemand belauschte. »Wie konnten Sie neulich bei der Werkstatt wissen, daß die Kinder gefährdet sind? Dieser Tibeter, der bei Ihnen war, hat gesagt, jemand würde sie ermorden. Und zwei Tage später wird dann wirklich einer der Jungen umgebracht.«
    »Er war bereits das dritte Opfer. Wir kamen an jenem Tag von den Gräbern der anderen beiden.«
    Kaju runzelte tadelnd die Stirn. »Nein«, beharrte er. »Das verstehen Sie falsch. Die Fälle, die Sie meinen, gehen auf eine Blutfehde zurück. Ko hat das bei einem Treffen der Brigade erklärt. Die Öffentliche Sicherheit war auch anwesend. Manchmal werden Dritte unfreiwillig in die Kämpfe der rivalisierenden Clans verwickelt. Ein Überbleibsel der alten Bräuche und zugleich der beste Beleg dafür, daß die Clans integriert und in das Programm zur Beseitigung der Armut aufgenommen werden müssen. Falls das nämlich nicht geschieht, wird die Öffentliche Sicherheit am Ende gar keine andere Wahl haben, als ihnen gewaltsam das Handwerk zu legen.«
    Shan sah hinaus in den Gang, wo alles ruhig blieb, und dann wieder zu dem Tibeter. »Kaju«, sagte er sehr leise, so daß der Lehrer sich zu ihm vorbeugte. »Lau wurde ermordet. Gefoltert und dann ermordet.«
    Der Tibeter sah ihm forschend in die Augen und schien dort nach etwas zu suchen. Dann legte er die Stirn in Falten und schüttelte den Kopf, als sei er enttäuscht. »Diese Art von Gerede hilft wirklich niemandem weiter«, sagte er. »Weder den Kindern noch den Clans. Und auch nicht den Integrationsbemühungen.« Er ging an Shan vorbei auf den Flur, drehte sich um und senkte die Stimme. »Sie klingen wie einer dieser Radikalen von der lang ma. Lassen Sie das bloß niemand anderen.« Er wurde durch ein weiteres Signal aus den Lautsprechern unterbrochen, ein zweistimmiges Läuten. Dankbar blickte er auf. »Ich habe jetzt eine Sitzung«, verkündete er mit einem letzten Achselzucken, klemmte sich den CD-Player unter den Arm und eilte mit großen Schritten auf die Hintertür des Gebäudes zu.
    Shan wartete ein paar Sekunden und beobachtete, wie Kaju den Schulhof überquerte und eines der anderen Gebäude betrat. Dann schlug er leise den Weg zum Vordereingang ein. Auf halber Strecke vergewisserte er sich, daß niemand sonst sich im Korridor befand, und betrat ein leeres Büro. Dort auf dem Schreibtisch lagen zwei Blätter. Ein Memo von Direktor Ko und das Rundschreiben aus Urumchi bezüglich der Wirtschaftsangleichung. Als Absender fungierte die Zentrale der Volksentwicklungs- und Aufbaugesellschaft. Shan faltete das Papier zusammen und steckte es ein.
    Jakli erwartete ihn an der Tür, und Lokesh fegte noch immer den Boden am Tor und sang dabei vor sich hin. Als der Tibeter die beiden anderen herankommen sah, nahm er einen Leinenbeutel, der am Torpfosten lehnte, und streckte ihn Jakli entgegen. »Ein

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