Das Auge von Tibet
helfen könnte. Jedermann weiß, wie hoch die Säuglingssterblichkeit bei den Minderheiten ist. Ko will nur helfen.«
Shan beobachtete, daß der Pferdewagen direkt vor der Limousine der Anklägerin hielt. Der Fahrer spannte das Pferd aus und führte es weg. Shan sah genauer hin. Vorn war kein Platz. Der Heuwagen blockierte das andere Fahrzeug. Er schaute sich auf dem Gelände um. Jakli hatte gesagt, Xu könnte andere Leute mitbringen, die als Fernfahrer verkleidet waren.
»Das ist doch irgendwas Buddhistisches«, sagte sie auf einmal und deutete auf sein mudra .
Wortlos und verlegen nahm Shan die Hände auseinander. »Leutnant Sui«, sagte er dann. »Wird auch der Mord an ihm untersucht?«
»Baos Büro hat mir mitgeteilt, Sui sei auf einen neuen Posten in die Mandschurei versetzt worden.«
»Aber Sie haben es ihm nicht geglaubt.«
Xu nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette. »So einfach ist das nicht.«
»Sui ist entweder tot oder wurde versetzt. Haben Sie versucht, seine Versetzung zu überprüfen?«
Sie runzelte die Stirn, als sei das Thema ihr zuwider.
»Es gibt zwei Möglichkeiten«, sagte Shan. »Die Öffentliche Sicherheit will etwas vertuschen, ohne das Justizministerium einzuweihen. Oder Bao will etwas vertuschen, ohne auch nur die Öffentliche Sicherheit einzuweihen.« Es gab noch eine dritte Möglichkeit, die er jedoch nicht zur Sprache brachte. Vielleicht wußten alle - Bao, Xu und Peking - über den Mord Bescheid und hatten sich nur noch nicht auf eine politische Marschrichtung geeinigt.
»An jenem Tag bei der Werkstatt in den Bergen wurden Sie von Sui begleitet, und Kaju traf im Wagen von Ko dort ein«, fügte Shan hinzu. »Kaju sagte, er sei auf der Suche nach den Jungen, Laus Jungen. Womöglich hatte Sui die gleiche Absicht.«
Als sie diesmal ausatmete, blies sie ihm den Rauch direkt ins Gesicht. »Im Zuge der Suche nach Lau hatten wir Straßensperren eingerichtet. Die Öffentliche Sicherheit war dabei sehr kooperativ. Das Ministerium und die Öffentliche Sicherheit arbeiten Hand in Hand.«
»Als ich neulich bei Ihnen war, hat die Öffentliche Sicherheit eine Teetasse nach Ihnen geworfen«, entgegnete Shan lakonisch. Für eine Sekunde glaubte er in den Augen der Anklägerin so etwas wie Belustigung aufblitzen zu sehen.
»Ich habe noch eine andere Theorie im Hinblick auf Sui«, sagte Xu. »Falls er tatsächlich tot ist, wurde er vielleicht von Tibetern ermordet.«
Shan spürte, wie seine Kehle schlagartig auszutrocknen schien. Er erwiderte Xus Blick und zuckte die Achseln. »Wir sind hier in Xinjiang.«
»Dies ist eine Grenzregion. Wir sind hier überall und nirgends. Als Sie an jenem Tag von der Werkstatt losgefahren sind, hat Sui die Kontrollpunkte per Funk angewiesen, Sie in Gewahrsam zu nehmen. Genaugenommen nicht Sie persönlich. Er gab den Befehl, den Lastwagen anzuhalten und den alten Tibeter zu verhaften, der bei Ihnen war.«
Shan starrte auf seine Hände. Sui hatte nach Tibetern gesucht. War Sui derjenige gewesen, der Lau gefunden hatte? Aus dem Augenwinkel sah er eine graue Gestalt aufstehen und langsam um die hintere Ecke der Werkstatt verschwinden. Jakli, die zu dem schlafenden Lokesh ging.
»Ein harmloser alter Mann«, sagte Shan.
Xu schaute mit gequälter Miene in Richtung des Gebirges. »Ich würde im Zusammenhang mit Tibetern niemals das Wort >harmlos< benutzen«, sagte sie in seltsam entrücktem Tonfall und ließ den Blick dann über das Gelände schweifen. »Mit allen anderen können wir reden und verhandeln, können Wissen vermitteln und Überzeugungsarbeit zur Veränderung leisten. Aber die Tibeter bleiben einfach Tibeter.«
»Und deshalb lassen Sie Ihre Wut an Gebetsfahnen aus?« fragte Shan ruhig.
Schweigend musterte sie ihn eine Weile und senkte dann den Blick auf die Tischplatte. »Ich weiß, daß zumindest ein Junge gestorben ist«, sagte sie genauso ruhig. »Sui hat angedeutet, daß von seiten der Tibeter irgendeine neue Verschwörung ausgehen könnte. Ich habe meinen leitenden Untersuchungs beamten gebeten, Augen und Ohren offenzuhalten und herauszufinden, wo in den Bergen die Kinder der zheli vielleicht auf Tibeter treffen könnten. Wir hörten, daß sich an jenem Ort eine kleine Familie aufhalten sollte, also sind wir hingeflogen. Und jetzt sagen Sie, daß dort ein Junge gestorben ist«, schloß sie, als sei damit etwas bewiesen.
Sie sind hingeflogen, um die Götter zu blenden, hitte Shan beinahe gesagt. »Waren Sie in Begleitung der Öffentlichen
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