Das Auge von Tibet
Chinas darstellt.« Sie überlegte kurz und zuckte die Achseln. »Dennoch ist das Programm lediglich ein Experiment.«
»Sie sind nicht davon überzeugt?«
»Manchmal geht er zu weit. Lau war ausgeglichen. Aber dieser Kaju. Ich habe eine seiner Unterrichtsstunden besucht. Er erklärte den Kindern, wie man buddhistische Gebetsketten handhabt, und fragte, ob sie selbst einmal derartige Ketten besessen hätten. Ich habe mich bei der Brigade über ihn beschwert. Man sagte mir, es sei Teil des Programms. Bestätige die ethnischen Wurzeln. Laß die tibetischen Kinder wissen, daß Gebetsketten nichts Schlimmes sind, und erlaube den Moslems, sich hin und wieder in Richtung Mekka zu verneigen. Dann führe ihnen allmählich vor Augen, wie altmodisch dies alles ist und welche subtile Form von Gedankenkontrolle sich dahinter verbirgt.«
Shan sah sie wortlos an. Die Bestätigung der ethnischen Wurzeln war außerdem eine Möglichkeit, unerkannte Tibeter zu identifizieren. Vor mehr als vierzig Jahren hatte Mao Tse-tung eine Kampagne ins Leben gerufen, die als Hundert-Blumen-Bewegung bekannt wurde. Laßt hundert Blumen blühen, hatte der Vorsitzende gesagt, um auf diese Weise die Menschen zu ermutigen, ihre verschiedenen Ansichten zu äußern und die Regierung öffentlich zu kritisieren. Letzten Endes sollten dadurch nur die Dissidenten enttarnt werden. Nach einigen Wochen wurde die Kampagne abgebrochen, und wer Kritik am Vorsitzenden geübt hatte, mußte ins Gefängnis.
Shan sah, daß soeben ein weiteres Fahrzeug, ein schwerer Diesellaster, unmittelbar hinter der Limousine parkte, so daß der Wagen nun vollends eingeklemmt war. Mit zischenden Luftdruckbremsen und laufendem Motor blieb der Laster stehen. Der Fahrer verharrte hinter dem Lenkrad und konzentrierte sich auf den Mah-Jongg-Spieler, der der Anklägerin am nächsten saß. Fat Mao. Wie hatte Marco die Maos genannt? Schmarotzer, stets auf der Suche nach leichten Opfern.
Shan entfaltete den Zettel, den er aus der Schule mitgenommen hatte, und schob ihn zu Xu herüber. »Sind diese Leute so wild darauf, die Kinder zu religiösen Geständnissen zu verleiten, daß sie Bestechungsgeschenke anbieten müssen?«
Xu las das Rundschreiben, ohne es zu berühren. Ihre Oberlippe hob sich verächtlich, und Shan gelangte langsam zu der Überzeugung, daß diese Miene wohl typisch für sie war. Vielleicht war sie schon seit so langer Zeit verbittert, daß ihr Gesicht automatisch diesen Ausdruck annahm, wenn es sich entspannte. Er sah, daß sie die Empfängerliste des Memos überflog, in dem Ko die CD-Player als künftige Geschenke ankündigte. Zwei der Männer kannte er - Bao Kangmei und Kaju Drogme. Der dritte Name sagte ihm nichts. Rongqi, Urumchi, stand dort.
Xu seufzte und verstaute den Zettel in ihrer Leinentasche. Dabei faßte sie ihn nur vorsichtig am Rand an, als sei er zerbrechlich.
»Vielen Dank«, sagte sie. »In meinem Büro konnte ich eine Videoaufnahme von Ihnen anfertigen. Jetzt habe ich auch Ihre Fingerabdrücke.« Sie wirkte auf einmal sehr zufrieden. »Agitatoren von außerhalb geben stets erstklassige Kandidaten ab.«
»Kandidaten wofür?«
»Für alles mögliche. Mord. Sogar Verrat. Auf diese Weise lassen sich offene Fälle leicht abschließen. Vielleicht hänge ich Ihnen auch nur eine Verletzung von Dienstgeheimnissen an. Dieses Memo war lediglich für die Augen von Regierungsangestellten bestimmt. Sie arbeiten nicht für die Regierung.«
»Es ging um Mitarbeiter der Brigade, nicht der Regierung«, wandte Shan ein.
Xu zuckte die Achseln, als bedeute dies keinen Unterschied.
Shan starrte sie an. »Also gut. Verhaften Sie mich. Das einzige, was ich wirklich gut kann, Genossin Anklägerin, ist überleben. Ich werde ins Gefängnis gehen. Ich werde es überleben. Aber dann hätten die anderen gewonnen.«
»Welche anderen?«
»Das weiß ich noch nicht. Womöglich Bao. Kaju. Vielleicht auch dieser Rongqi in Urumchi.«
Xu zündete sich eine weitere Zigarette an, bevor sie antwortete. »Ich brauche Sie gar nicht konkret mit irgend etwas in Verbindung zu bringen. Sie sind eine unerwünschte Person. Sie gehören nicht hierher. Unerwünschte Personen sind automatisch schuldig. Gegen Leute wie Sie gibt es ein wirksames Heilmittel. Ein Anruf, und Sie wandern für ein Jahr ins Lager Volksruhm.«
Shan ignorierte sie. »Rongqi«, wiederholte er. Versuchte sie, dem Namen auszuweichen? »Hat er Lau gekannt?«
Xu zögerte. »Er ist General. Ehemaliger General. Inzwischen
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