Das Auge von Tibet
gehört er zu den Führungsspitzen der Brigade. Er steht an zweiter Stelle. Lau und ich haben ihn in Urumchi aufgesucht.«
»Lau ist mit Ihnen in die Hauptstadt gefahren?«
»Rongqi war derjenige, der über das neue Angleichungsprogramm zu entscheiden hatte. Ich dachte, Lau sei eine geeignete Vertreterin genau jener Art von Leuten, die wir brauchen. Das Justizministerium hatte beschlossen, das Programm zu unterstützen und seine Datenbanken zur Verfügung zu stellen. Ich habe Lau gebeten, mich zu begleiten und als Fürsprecherin zu fungieren.« Es schwang etwas Neues in ihrer Stimme mit, eine gewisse Unsicherheit.
»Aber dann ist etwas geschehen.«
»Ich weiß es nicht. Rongqi war sehr freundlich. Die beiden haben sich unterhalten, und dann kühlte Lau auf einmal merklich ab. Sie sagte, sie sei krank und müsse sich leider entschuldigen. Auf der ganzen Rückfahrt hat sie kaum ein Wort gesprochen.«
»War das, bevor sie ihren Sitz im Rat verloren hat?« In der Schule hatte Hu erzählt, daß Ko die alte Lehrerin am Tag vor ihrem Tod überzeugen wollte, ihn nach Urumchi zu begleiten.
»Ungefähr zwei oder drei Wochen vorher.« Ihre Züge verhärteten sich. »Da besteht kein Zusammenhang. Ich weiß, was für eine Sorte Mensch Sie sind, Shan. Je höher jemand steht, desto schuldiger ist er für Sie.« Sie drückte ihre Zigarette auf der primitiven Tischplatte aus. »Ich habe ein Rätsel für Sie. Wenn man Sie einmal verschwinden läßt, nennt man das Gulag. Aber wenn Sie zum zweitenmal verschwinden, wie nennt man das dann?«
Shan seufzte und richtete den Blick himmelwärts. »Ich komme übermorgen in Ihr Büro. Dann können Sie mich verhaften, falls Sie das immer noch wollen.«
Xu runzelte die Stirn, äußerte jedoch keinen Einwand.
»Ich glaube nicht, daß Sui Sie an jenem Tag nur wegen des Vermißtenfalls begleitet hat«, sagte Shan. »Dafür war er zu eindeutig an Tibetern interessiert.«
»Er war meine Verbindungsperson zu den Straßensperren. Gleichzeitig hat er an einem Fall der Öffentlichen Sicherheit gearbeitet. Es ging um Jadediebe.«
»Jade?«
»Er hat mich an dem Tag gefragt, ob ich kürzlich irgendwelche hübschen Jadestücke gesehen hätte. Ich wußte, was er damit andeuten wollte. Die gesamte chinesische Jade stammt aus dieser Region. Die Förderung und Weiterverarbeitung ist nur mit speziellen Lizenzen gestattet. Die Qualität wird kontrolliert und amtlich beglaubigt. Außerdem wird eine Sondersteuer erhoben. Manchmal versucht jemand, all diese Prozeduren zu umgehen und die Jade billig auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Solche Fälle werden meistens den unteren Offiziersrängen übertragen. Sui hatte gehört, daß ich Kontrollpunkte errichten würde, und da wollte er die Gelegenheit nutzen, zugleich nach illegaler Jade zu fahnden. Offenbar hat er tibetische Täter vermutet.«
Nein, wollte Shan erwidern. Sui hatte es auf die Jungen abgesehen. Er schaute zum hinteren Bereich der Werkstatt, wo Lokesh schlief. Sui hatte nach dem Jadekorb gesucht und war getötet worden. Dann hatte Ko seinen teuren Wagen an Major Bao weitergegeben. Nicht aus Freundschaft, sondern weil er Bao irgendwie verpflichtet war. Oder weil die beiden gemeinsame Interessen hatten.
Xu sah sich auf dem Gelände um und bemerkte den Pferdewagen und den Laster, die ihre Limousine blockierten. Es schien sie zu beunruhigen. Mit nervöser Bewegung wischte sie den noch glimmenden Zigarettenstummel vom Tisch und erhob sich. Alle um sie herum wichen ihrem wütenden Blick aus. Shan sah, daß Fat Mao eine kleine Geste vollführte, woraufhin der Diesellaster langsam zurücksetzte und die Limousine freigab.
»Eines noch«, sagte Shan. »War es Ihre Idee, Fräulein Loshi mitzunehmen?«
»Wie meinen Sie das?«
»Sie ist mit Direktor Ko befreundet. Hat sie darum gebeten, mitkommen zu dürfen?«
Xu überlegte einen Moment. »Mein leitender Untersuchungsbeamter ist in den Bergen unterwegs. Sie wußte das und hat angeboten, mich zu begleiten.«
»Und unser Treffen zu beobachten.«
»Ganz recht«, bestätigte Xu mit spöttischem Grinsen und winkte in Richtung der Teestube. Kurz darauf kam Loshi zum Vorschein, das Mobiltelefon deutlich sichtbar vor sich ausgestreckt. Xus Beschützerin.
Nervös verfolgte Shan, wie Xu ihre Leinentasche auf der Motorhaube der Limousine abstellte. Aus dem Augenwinkel nahm er eine Bewegung wahr. Fat Mao rannte in die Werkstatt und kehrte gleich wieder mit einem zusammengefalteten weißen Zettel zurück.
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