Das Auge von Tibet
befürchten begann, Lokeshs hohes Alter und die Anstrengungen der Suche würden einen immer höheren Tribut fordern. Er machte sich große Sorgen um seinen alten Freund und fragte sich, was wohl geschehen mochte, wenn ihre Suche nicht bald zu einem Ende gelangte. Den zweiten Grund für die Rückkehr nach Senge Drak hatte Shan nicht laut geäußert. Es ging ihm nicht nur darum, Lokeshs Sicherheit zu gewährleisten. Er mußte außerdem das Geheimnis des Jadekorbs lösen. Und die Antwort lag nicht in Xinjiang.
Die Sonne stand bereits tief über dem westlichen Horizont, als der Lastwagen den unebenen Pfad erreichte, der den letzten Anstieg nach Senge Drak bedeutete. Weiter konnte Fat Mao sie nicht bringen, denn er mußte so schnell wie möglich nach Xinjiang zurückkehren. Also schärfte er ihnen ein, im trüben Dämmerlicht keinen Fehltritt zu tun, gab ihnen Decken mit auf den Weg und beschrieb ihnen den Standort einer kleinen Höhle, in der sie geschützt bis zum nächsten Morgen ausharren sollten. Doch weder Shan noch Lokesh wollten warten. Fat Mao hatte keine Lampe für sie dabei, und so verließ er sie mit einer letzten Warnung.
»Wir sind bei Dunkelheit nie zu Fuß unterwegs«, sagte der Uigure. »Ihr könntet abstürzen, und kein Mensch würde je davon erfahren. Falls ihr euch verletzt, wird niemand euch zu Hilfe kommen.«
Aus Richtung der Changtang wehte ihnen ein stürmischer Wind entgegen und ließ die Enden der zusammengerollten Decken, die sie sich auf die Schultern gelegt hatten, wild umherflattern. Shans Augen begannen zu tränen, er mußte an Maos Warnung denken. Der uigurische Krieger hatte außergewöhnlich furchtsam geklungen, als sei Senge Drak eine Art Trugbild, das im Dunkeln nicht gefunden werden konnte und bei Nacht vielleicht nicht einmal existierte. Für die meisten Leute mochte das sogar zutreffen, überlegte Shan, während er Lokesh um eine weitere steile Wegbiegung führte. In der Welt der Kommunisten und der einfachen Landbewohner kam Senge Drak nicht vor. Es existierte nur in der Welt von Gendun und Lokesh, dessen Schwäche, so mutmaßte Shan, auch etwas damit zu tun hatte, daß er schon länger von dieser vertrauten Umgebung getrennt gewesen war.
Shan wandte den Kopf und sah seinen Freund an, der sich lächelnd gegen den Wind stemmte, einer jener harmlosen Tibeter, die Xu aus irgendeinem Grund mehr als alle anderen fürchtete. Er erinnerte sich, welch seltsamen Blick sie auf das Gebirge geworfen hatte, als sei ihr etwas eingefallen oder zu Gesicht gekommen, das sie nicht begreifen konnte. Wie hatte sie sich wohl gefühlt, als sie Farbe über die Bilder der tibetischen Gottheiten sprühte? Hatte sie sich hämisch gefreut? Oder hatte sie gezittert?
Shan selbst war nach wie vor zwischen den zwei Welten gefangen. Und mehr als je zuvor wußte er, daß die Priester ihn auserwählt hatten, weil er zu keiner von beiden gehörte. Etwas hatte die empfindliche Balance gestört, und nun starben Menschen deswegen. Der Schlüssel zu allem lag im Verständnis der Tatsache begründet, was aus der Welt der Priester sie in dieses fremde, entlegene Land zog. Er wußte, daß Teile der Lösung draußen in der Wüste lagen, bei den längst verstorbenen Pilgern. Andere Teile befanden sich in Senge Drak und Karatschuk sowie bei Jakli und dem alten Wasserhüter. Der Jadekorb war ebenfalls ein solches Teil; obwohl die Tibeter für gewöhnlich nicht nach bestimmten Gegenständen trachteten, schien dieses geheimnisvolle gau ihnen überaus wichtig zu sein. Auch der Junge, Khitai, stellte ein Teil dar. Der Junge, der sorgfältig seine mala und die dorje-Kette verborgen hatte und der - dessen war Shan sich irgendwie sicher - in dem Unterrichtsraum des Wasserhüters gewesen war.
Shan hatte nur Teile, Teile des Geheimnisses der Tibeter. Und Teile des anderen, des Geheimnisses der Amerikaner. Aber die Teile paßten nicht zusammen. Vielleicht weil er sie falsch zugeordnet hatte, so daß manche der Teile des Geheimnisses der Amerikaner in Wirklichkeit zu jenem der Tibeter gehörten?
In Lokeshs Augen erwachte ein neues Funkeln zum Leben, er schien sich auf einmal schwungvoller zu bewegen. Ihr Weg führte sie nicht nur in einen dzong, der in einer riesigen Felsformation verborgen lag, sondern auch in ein Refugium. Shan wußte, daß Senge Drak mehr als eine einfache Zufluchtsstätte war; es bedeutete Zeitlosigkeit und Besinnung, und er selbst bedurfte dessen vielleicht genausosehr wie Lokesh. Er ging wie im Traum voran,
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