Das Auge von Tibet
setzte wie in blindem Vertrauen einen Fuß vor den anderen und drang in die tiefen Schatten des schmalen Pfades vor. Zeitlosigkeit. Gendun hatte einst zu ihm gesagt, daß es auf dem Weg zur Erkenntnis vor allem zwei große Hindernisse zu überwinden galt: materiellen Besitz, der nur das Verlangen nach weiteren Gütern schürte, und die Zeit, die so viele Menschen zu einem hastigen Leben verführte und ihnen die Furcht einflößte, sie könnten bei gemächlicherem Tempo etwas verpassen, als ließe sich bei entsprechender Geschwindigkeit das eigene Schicksal ändern. Wenn man in einer Mönchszelle saß oder den Nachthimmel beobachtete, verlor die Zeit an Bedeutung. Auch Shan konnte sich, wenn er es zuließ, einfach dahintreiben lassen, so daß die tausendjährige Mumie und Lokesh und Buddhas Reh auf dem Wandgemälde und die winzigen Herbstblumen, deren Blüte stets nur wenige Tage währte, alle an ein und demselben Ort verschmolzen, der, mangels eines besseren Begriffs, seine Lebenskraft darstellte.
Aber nein, er durfte sich nicht treiben lassen, dachte Shan. Dort draußen war jemand unterwegs, für den Zeit durchaus eine Rolle spielte. Jemand, der es eilig hatte, Kinder zu töten.
In der Ferne erspähte er die große glatte Klippe mit den zwei Vorsprüngen. Auf den darunterliegenden Hängen verlief ein dünnes dunkles Band - der Pfad zu den Tunneln, der sich über die Flanke des Löwen schlängelte. Vor ihnen gähnte der gewaltige Abgrund, in dessen Tiefen sich Geröll aus abgesplitterten Felsen auftürmte. Einen Moment lang verharrten Shan und Lokesh im letzten trüben Licht der Dämmerung auf dem Grat, während der Wind in ihre Gesichter peitschte. Ein großer Vogel flog vorbei. Lokesh legte den Kopf in den Nacken und schaute ihm hinterher, wie er über den löwenförmigen Berg schwebte und sich auf einem der Vorsprünge niederzulassen schien, ein kleiner Schatten auf einem der Ohren des Löwen.
Dann ging der alte Mann in Richtung des Vogels weiter, ohne sich auch nur nach Shan umzusehen.
Auf ihrem Weg den Hang hinauf legte Lokesh ein zunehmend forsches Tempo vor, so daß Shan ihm fast schon im Laufschritt hinterhereilen mußte. Es sah tatsächlich so aus, als habe für den alten Tibeter die Zeit eine andere Bedeutung gewonnen, wenngleich nicht vorhersehbar war, nach welchen Regeln der jeweilige Wechsel zwischen der Zeit des alten, schwachen und der des stärkeren, jüngeren Lokesh erfolgte. Nein, vielleicht war es doch vorhersehbar, grübelte Shan und dachte daran zurück, wie kraftvoll Lokesh in dem alten dzong gewirkt hatte. Lokesh der Jüngere lief nun auf Gendun Rinpoche und Senge Drak zu. Shan mußte eine Möglichkeit finden, ihn dort zu belassen - tief im Innern des dzong oder in irgendeinem anderen Versteck in Tibet -, denn das war das Land von Lokesh dem Starken. Falls er nach Xinjiang zurückkehrte, wo offenbar der gebrechliche, schwache Lokesh zu Hause war, würde der alte Mann dies womöglich nicht überleben.
Der dzong war leer, als sie eintraten. Die Kohlenpfanne im Speiseraum war kalt. Auf dem Tisch stand ein halbleerer Teller tsampa. Sie standen in einer der Fensteröffnungen und ließen die Blicke über die riesige leere Ebene schweifen, bis Shan spürte, daß sich von hinten jemand näherte.
Es war Jowa, allerdings nicht mehr der stolze purba , den Shan kennengelernt hatte, sondern ein bedrückter, sorgenvoller Jowa, der halbtot vor Müdigkeit zu sein schien.
»Du bist zurückgekommen«, stellte Shan fest. »Du bist nicht mit den anderen gegangen.« Er wußte noch, wie vorlaut Jowa der Krieger sich an ihrem letzten gemeinsamen Abend gebärdet und sogar Gendun widersprochen hatte. Und er erinnerte sich an den besorgten Jowa einige Nächte zuvor, der nach Genduns Verschwinden gesagt hatte, jeder Kampf sei sinnlos, falls die Lamas nicht überlebten.
Jowa schien ihn nicht zu hören. »Ich habe so etwas zuvor schon gesehen«, sagte er mit gequälter Stimme. »Es sind jetzt drei Tage und zwei Nächte. Wenn sie sich in so einem Zustand befinden, muß jemand bei ihnen bleiben. Er könnte versuchen, zum Fenster hinauszufliegen. Sein Geist würde nicht erkennen, was sein Körper getan hat, bis es zu spät wäre.«
Auf dem Tisch stand eine Schöpfkelle mit Wasser. Shan reichte sie Jowa, der sie gierig packte und die Flüssigkeit mit großen Schlucken trank. Dann führte Shan ihn zu einem Ruhelager in einer der Zellen. Der purba bettete sein Haupt auf den Boden und schlief dermaßen schnell ein, daß
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