Das Auge von Tibet
Plötzlich schrie jemand etwas von der anderen Seite des Geländes. Zwischen zwei Lastwagen lief ein Tier hervor, ein großer blökender Widder, der wild umhersprang und alle paar Schritte den Kopf hochwarf, als würde er gegen einen unsichtbaren Rivalen kämpfen. Einige der Männer riefen laut durcheinander und eilten auf das Tier zu. Andere wichen in den Schutz der Gebäude zurück.
Loshi blieb mitten auf der Straße stehen und stieß ein Geräusch aus, keinen Schrei, sondern eher ein schrilles Jaulen. Sie versuchte gar nicht erst, dem sich nähernden Tier auszuweichen, sondern verharrte an Ort und Stelle und hielt sich die Augen zu.
Der Widder schien die Handbewegung als ein Signal zu werten. Er rannte direkt auf Loshi zu und wich erst im letzten Moment zur Seite aus, so daß er mit seiner kräftigen Schulter ihre Knie traf und ihr die Beine unter dem Körper wegriß. Sie stürzte zu Boden und setzte sich mit erschrockener Miene auf, während die Männer das Tier wieder einfingen. Anklägerin Xu lief um den Wagen herum, um Loshi aufzuhelfen. Im selben Moment eilte Fat Mao zu der Limousine. Shan beobachtete Xu, die Loshi zum Wagen führte.
Sobald die Limousine der Anklägerin außer Sicht war, brach auf dem Gelände hektische Aktivität aus. Die Männer an den Tischen standen auf. Der Fahrer des großen Sattelschleppers drosselte den Motor und stieg aus. Der Mann mit dem Pferd brachte das Tier zurück zu dem Heuwagen.
Auch Jakli tauchte wieder auf, schlug die Kapuze zurück und schüttelte ihr Haar. Direkt hinter ihr folgte Lokesh und lächelte breit.
»Es ergibt keinen Sinn«, sagte Jakli und blickte die Fernstraße hinunter, auf die der Wagen eingebogen war. »Was sollte das? Sie hat nur ihre Sekretärin mitgebracht.«
»Sie hatte nie vor, ihn zu verhaften«, sagte Fat Mao und setzte sich neben Shan an den Tisch. »Sie will ihn benutzen und erst später festnehmen.« Der Mao musterte Shan unschlüssig und hielt ihm dann ein Stück Papier entgegen. Das Memo, das Xu eingesteckt hatte. »Ich habe es gegen einen leeren Zettel ausgetauscht«, sagte er und lächelte matt. »Sie haben sie mit Absicht verärgert«, fügte er hinzu und schüttelte den Kopf. »Sie ahnen ja nicht einmal, wie gefährlich das ist.«
Shan nahm das Blatt, faltete es und steckte es ein. »Ich habe nur eine Absicht, nämlich die Wahrheit herauszufinden«, sagte er.
Fat Mao starrte ihn mißmutig an. »Und was ist, falls Ihre Wahrheit für uns bloß eine zusätzliche Gefahr bedeutet?«
»Die einzigen, die sich hier wirklich in Gefahr befinden«, sagte Shan und warf Lokesh einen beunruhigten Blick zu, »sind Kinder und Tibeter.«
Kapitel 14
Fat Mao fuhr schnell und immer nach Süden, weitaus schneller, als es auf den holprigen Straßen angebracht schien. Es hatte keinen Streit und keine Diskussion gegeben. Shan würde nichts mehr unternehmen, bevor Lokesh nicht sicher nach Tibet zurückgekehrt und damit dem Zugriff der Kriecher entzogen war. Fat Mao hatte das Gesicht verzogen, aber keinen Ton gesagt, sondern lediglich auf den kleinsten der Lastwagen gedeutet. Lokesh hatte enttäuscht die Achseln gezuckt und sich von Jakli beim Einsteigen helfen lassen.
Danach kletterte Jakli auf den Heuwagen. Der Fahrer ließ das Pferd antraben und steuerte in zügigem Tempo einen Pfad an, der in die Berge führte. Während der Laster auf die Fernstraße einbog, schaute Shan ihnen hinterher. Vergeblich hatte er ein weiteres Mal versucht, Jakli zur Rückkehr in die Fabrik zu bewegen, weil ansonsten die Kriecher wahrscheinlich bald ihre Abwesenheit bemerken würden. Das Treffen der zheli sollte in vier Tagen am Steinsee stattfinden. Major Bao wußte davon. Direktor Ko wußte davon. Anklägerin Xu wußte davon. Der Termin war im Computer der Brigade vermerkt. Die ganz Welt wußte, wo die überlebenden Jungen in vier Tagen anzutreffen sein würden.
Der alte Tibeter lehnte sich auf seinem Sitz zurück und stimmte ein leises Lied an. Lokesh schien immer schwächer zu werden, und das nicht erst, seit man ihm mitgeteilt hatte, er müsse Xinjiang verlassen Schon seit der Entdeckung von Khitais Grab hatte Shan immer öfter den Eindruck gehabt, sein Freund würde irgendwie in sich zusammenschrumpfen, als wiche eine lebenswichtige Substanz mehr und mehr aus seinem Körper. Das alles schien in Schüben zu verlaufen, zwischen denen der alte Mann immer noch lebendig und stark wirkte, wenngleich die Erschöpfung ihm nun wesentlich heftiger zusetzte, so daß Shan zu
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