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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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sich blind vor. Sie befanden sich nicht auf der Suche nach einem Jungen. Sie waren es zu keinem Zeitpunkt gewesen. Er ging zurück zu der Fensteröffnung und stellte sich so, daß der inzwischen eisige Wind ihn mit voller Wucht traf. Er schloß die Augen, während sein Verstand fieberhaft arbeitete. Ein tulku war ein wiedergeborener Lama, eine dermaßen weit entwickelte Seele, daß sie ihre Reinkarnation steuern und sich sogar an frühere Inkarnationen erinnern konnte.
    »Auf halbem Weg zwischen dem Kailas und Shigatse gab es in den Bergen einst ein gompa , das viele Jahrhunderte lang zu den größten in Tibet gehörte«, erklärte Gendun. »Der erste Abt war ein tulku, der Yakde Lama, das Oberhaupt einer der alten, untergegangenen Sekten.« Obwohl Tibets Führung traditionell der Gelukpa oblag, der Schule der Gelbmützen, hatten dort im Laufe der Zeit noch viele andere Sekten existiert, die meisten klein und mittlerweile nahezu ausgestorben, andere zwar winzig, aber nach all den Jahrhunderten weiterhin lebendig und aktiv. »Zumindest fast untergegangen. Der letzte Yakde Lama stand einem Dutzend kleiner gompas vor, die zumeist während der Zeit des alten Königreiches erbaut worden waren. Als Junge hatte er eine Ausbildung in Shigatse genossen«, sagte Gendun und spielte damit auf das riesige Kloster Tashilhunpo an, das früher Tibets zweitgrößte Stadt dominiert hatte. Nur noch wenige der wiedergeborenen Lamas lebten in Tibet, aber sie stellten die Essenz der Geistlichkeit dar. Viele Tibeter betrachteten sie als wichtigste Anführer und scharten sich um sie.
    »Wir können nicht zulassen, daß ihm dasselbe wie dem Pantschen Lama widerfährt«, ertönte eine Stimme hinter ihnen. Jowa stand dort und wirkte noch immer erschöpft, aber in seinen Augen schwelte ein Feuer.
    Shan nickte bekümmert. Der zehnte Pantschen Lama, höchster wiedergeborener Lama neben dem Dalai Lama und traditioneller Vorstand des Klosters Tashilhunpo, hatte anfangs beschlossen, mit Peking zu kooperieren, um auf diese Weise Blutvergießen zu vermeiden. Er glaubte der Zusicherung, daß Peking sein gompa und die buddhistischen Traditionen Tibets erhalten würde, aber sobald man ihn in sein neues Zuhause nach Peking verfrachtet hatte, sperrte die Armee die viertausend Mönche seines Klosters ins Gefängnis. Nach einigen Jahren der Indoktrination wurde der Pantschen Lama als ausreichend unterworfen erachtet, um nach Tibet zurückkehren zu dürfen, doch anläßlich eines Festakts im Jahre 1964 verwarf er die Rede, die das Büro für Religiöse Angelegenheiten in seinem Namen vorbereitet hatte, und bekundete statt dessen vor Tausenden von Zuschauern lautstark seine Unterstützung der tibetischen Unabhängigkeitsbewegung. Für diesen einen Akt des Widerstands wurde er in Ketten nach Peking zurückgeschickt. Nach seinem unter höchst verdächtigen Umständen erfolgten Tod ließ das Büro für Religiöse Angelegenheiten mitteilen, er sei als Sohn zweier Parteimitglieder wiedergeboren worden, und nahm den Jungen zwecks einer besonderen Ausbildung in Gewahrsam. Unabhängig davon identifizierten unterdessen die Buddhisten mit Hilfe des in Indien befindlichen Dalai Lama und unter Anwendung uralter Weissagungsmethoden einen tibetischen Jungen als rechtmäßigen Pantschen Lama, doch das Kind wurde von der Regierung entführt und galt seit vielen Jahren als verschollen.
    »Ich habe von einer Rede in Lhasa gehört«, sagte Lokesh mit vernehmlichem Schmerz. »Die Regierung behauptet, sie sei zu tolerant gewesen und würde daher nicht gestatten, daß nach weiteren Inkarnationen der höheren Lamas gesucht wird. Nach dem Tod des vierzehnten Dalai Lama soll es keinen weiteren mehr geben.«
    Gendun seufzte. »Als Khitai von den Ältesten seiner Sekte gefunden wurde, war er drei Jahre alt«, erläuterte er. Shan wußte, daß es zur Auffindung wiedergeborener Lamas spezielle Praktiken gab, die sich gemäß den Traditionen der jeweiligen Sekten voneinander unterschieden. »Der Junge erkannte Gegenstände aus den früheren Inkarnationen des Lama. Der Orakelsee ließ einen Hinweis in Form seiner Initialen erscheinen. Und er trug das Muttermal auf seiner linken Wade. Man kam sofort zu dem Schluß, daß seine Existenz geheimgehalten werden mußte, bis er die Aufgaben des Yakde Lama in vollem Umfang übernehmen konnte.«
    Ein Muttermal. Man hatte jedem der toten Jungen das Hosenbein aufgeschlitzt.
    »Lau wurde als Nonne seines Ordens bereits zum Zeitpunkt der Identifizierung

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