Das Auge von Tibet
unterrichtet.«
Gendun und Lokesh erwiderten zunächst nichts darauf. Lokesh stand auf und schenkte neuen Tee ein.
Shan ging zu dem Durchlaß und sah hinaus in den Nachthimmel.
Lokesh stimmte mit heiserem Flüstern das alte Lied der Seelenhochzeit an.
»Khitai war sich dessen nicht bewußt. Er wußte nichts von ihrem Tod«, sagte Gendun auf einmal. »Er sucht noch immer nach ihr.«
Er war. Er ist. Shan kümmerte sich um den toten Jungen.
Gendun und Lokesh kümmerten sich um den lebendigen Geist, der von Khitai übrig blieb. Die Seele eines kleinen Jungen.
»Der Junge«, sagte Shan zögernd. »Der Junge, der kein Junge war.« Er dachte an Bajys' merkwürdige Äußerung zurück. Das war derjenige, den ich geliebt habe. Das war derjenige, den ich beschützen sollte. Jetzt wird er wieder tot sein. Aber das war derjenige, den ich gekannt habe, hatte Bajys gesagt.
Gendun kam langsam näher. Er hielt ein Weihrauchstäbchen in der Hand.
»Das ist eine Möglichkeit, es auszudrücken«, stimmte der Lama ihm zu. »Aber die Sprache der Zunge ist für solche Dinge nicht gut geeignet. Ich habe überlegt, aber ich finde keine Worte, um es zu erklären. Wir wußten lediglich, daß Laus Tod von dieser Welt gewesen ist. Wir wollten nur den Jungen schütze n. Wir dachten, falls du die Wahrheit über den Mörder der Lehrerin herausfinden könntest, würde diese Wahrheit den Jungen behüten.« Gendun trat gefährlich nah an den Rand des Durchlasses.
»Und der Rest war.« Shan rang nach den geeigneten Worten. Sie hatten nicht beabsichtigt, ihn in die Irre zu führen. Sie waren nur nicht in der Lage gewesen, die Begriffe der einen Welt in die andere zu übersetzen.
»Kein Geheimnis«, sagte Gendun, »bloß.« Er seufzte und sah einen Stern an. »Bloß kein Ding aus der Welt dort unten.« Der Wind zupfte an seinem Gewand und ließ es wie eine große, sich kräuselnde Gebetsfahne aussehen.
Shan trat an Genduns Seite und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Rinpoche, ich versuche, die andere Welt zu begreifen, ich muß es sogar. Denn die Antwort liegt in dem Bereich, wo die beiden Welten sich kreuzen.«
Gendun schaute hinaus in die Nacht. Unter ihnen am Horizont blitzte eine Sternschnuppe auf.
»Er war ein Freund von mir«, sagte Lokesh mit hohler Stimme. »Einmal, als ich noch klein war, hat er mich vor einer Lawine gerettet. Er packte mich und zog mich hinter einen Felsen, als der Schnee über eine Klippe hinab stürzte.« Er lächelte. »Danach sind wir zusammen weitergegangen und haben hoch in den Bergen Sutras rezitiert.« Er streckte die Hand aus und nahm die verbeulte Blechtasse des Jungen. »Er hatte diese Tasse bei sich, und wir haben damit Wasser aus den Gebirgsquellen geschöpft. Wir haben mit Hunden gespielt und nach Höhlen gesucht. Manchmal sind wir auf Gegenstände gestoßen, die Einsiedler dort zurückgelassen hatten.«
»Khitai?« fragte Shan hilflos.
Der alte Tibeter nickte seufzend und mit seltsam verträumter Miene. »Einmal sind wir am Geburtstag des Dalai Lama auf einen Berg geklettert und haben Papierpferde in den Himmel geworfen«, sagte er und beschrieb damit einen uralten Brauch. Wenn Reisende in Not diese Pferde fanden, so hieß es, verwandelten die Papierwesen sich in Reittiere aus Fleisch und Blut. Langsam ging Lokesh zurück zu der Kohlenpfanne und warf einige Wacholderzweige ins Feuer. Dann bemerkte er Shans verwirrten Gesichtsausdruck. »Damals hieß er nicht Khitai, sondern Tsering.« Lokesh lächelte zufrieden, als würde dies alles erklären. »Tsering Raluk.«
»Und davor?« fragte Gendun.
Lokesh zuckte die Achseln. »Davor wurde er unter dem Namen Dorjing in Kham geboren.« Er sah Gendun an, der ihn nickend zum Fortfahren ermunterte. »Davor lautete der Name seiner Inkarnation Ragta, geboren in Amdo. Und davor kann ich mich an kaum etwas erinnern. Ich weiß nur noch, daß es ganz früher einen Jungen in Nepal gab.«
Shan ging zum Tisch und ließ sich auf die Bank sinken. »Das verstehe ich nicht. Inkarnationen können sich nicht an frühere Leben erinnern. Und sie können auch nicht beeinflussen, wo sie wieder auftauchen.«
Er sah seine beiden Freunde an, die ihn lächelnd betrachteten, als wären sie zwei Kinder, die ein wundervolles Geheimnis miteinander teilten.
»Ai yi«, flüsterte Shan in plötzlicher Erkenntnis. »Er ist ein tulku.« Die Wahrheit brach schlagartig über ihn herein, und noch nie hatte er sich so unwissend gefühlt. Endlich konnte er sehen, und dennoch kam er
Weitere Kostenlose Bücher