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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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beobachtet. Ihr beide seid ohne Schutz. Ohne Papiere. Ihr würdet das niemals überleben.«
    Gendun lächelte nachsichtig. »Wir haben unseren Glauben. Und wir haben den Mitfühlenden Buddha.«
    Shan sah Gendun an, den Einsiedler, der ein karges Dasein in einem Höhlenkloster Lhadrungs gefristet und bis vor zwei Wochen noch nie in einem Lastwagen gesessen hatte, der weder Gewehre noch Helikopter oder die elektrischen Viehtreiber kannte, die bei den Verhörspezialisten der Kriecher überaus beliebt waren. Er trat neben die Kohlenpfanne zu Lokesh. »Ich verspreche dir, falls du ins sichere Lhadrung zurückkehrst, werde ich den Mörder finden. Und ich werde den Jadekorb zurückbringen, auch wenn ich dafür bis nach Peking reisen muß. Ruht euch heute nacht aus und geht dann wieder in die Duftkammer, bis Jowa einen Lastwagen gefunden hat. Ihr könnt nach Hause zurückkehren.«
    »Heute nacht ruhen wir aus«, erklärte Lokesh sich einverstanden. »Und nach Hause zu gehen wäre nicht schlecht«, fügte er nachdenklich hinzu. Gendun nahm Shans Hand und drückte sie fest. Dann ließen die beiden Tibeter sich von Shan zu den Ruhelagern der nächstgelegenen Meditationszelle führen.
    Doch am nächsten Morgen saß Jowa mit trostloser Miene am Tisch. Bajys lief die Gänge entlang und rief dabei immer wieder verzweifelt ihre Namen, so daß seine kummervolle Stimme bis in den Speiseraum hallte. Aber sie waren nirgends zu finden. Gendun und Lokesh hatten sich mitten in der Nacht auf den Weg begeben. Sie waren unterwegs in die Welt dort unten.

Kapitel 15
    Shan saß auf dem Wächterstein und ließ sich vom Wind durchschütteln, der stark nach Schnee roch. Diesmal war nicht nur Gendun, sondern auch Lokesh verschwunden, mitten hinein in eine aus den Fugen geratene Welt. Shan hatte Jowa mit leerem Gesichtsausdruck an einer der Fensteröffnungen zurückgelassen, während Bajys beständig auf und ab lief und dabei keuchte, als müßte er fortwährend schluchzen. Kehr in die Zelle zurück, hatte Shan sich ermahnt. Setz dich mit dem Bogen hin, bis du wieder ein Ziel vor Augen siehst. Aber sein Verstand war zu sehr getrübt, und so stieg er zu dem alten Wachposten hinauf, während sich gleichzeitig das Sonnenlicht über die große freie Ebene ergoß. Mehrmals hielt er nach zwei Gestalten in der Ferne Ausschau, und manchmal sah er fragend zu den schnell dahinziehenden Wolken empor.
    Plötzlich stieß eine Sturmbö auf ihn herab und hüllte ihn unvermittelt in wirbelnde Schneeflocken. Er rührte sich nicht, ignorierte die Kälte und reagierte nicht auf die vielen kleinen Nadelstiche, die sein Gesicht trafen. Vielleicht war dies gar kein Sturm, überlegte er, sondern ein Einblick in seinen eigenen Verstand. Gegenwärtig konnte er nichts anderes fühlen. Verwirrung. Ein Durcheinander aus widersprüchlichen Gedanken. Umhertreibend zwischen den Welten. Die Kälte des Todes. Selbst wenn Khitai der zehnte Yakde war, wieso mußte er unbedingt getötet werden? Weshalb reagierten die Kriecher auf den Mord an einem ihrer Offiziere nicht mit Vergeltungsmaßnahmen? Was hatte der namenlose Amerikaner im Lager Volksruhm verloren? Warum hatte Sui versucht, Lokesh verhaften zu lassen, und zugleich nicht gewollt, daß Direktor Ko davon erfuhr? Hatte man den alten Wasserhüter enttarnt? Wurde der ehrwürdige Lehrer des kindlichen Lama in diesem Moment gefoltert?
    Durch das Schneetreiben war ein Stück Himmel zu erkennen, und dann hörte der Sturm genauso abrupt auf, wie er begonnen hatte. Im nächsten Moment begriff Shan, daß er mindestens noch ein weiteres Stück des Puzzles kannte und entsprechend handeln mußte. Er hatte in der Welt von Lau und den Jungen der zheli nach Hinweisen gesucht. Nun mußte er die Welt des Yakde Lama ergründen.
    Als er nach unten zurückkehrte, hatte Bajys Jowas Jacke auf dem Tisch ausgebreitet und bürstete sie mit einer Quaste aus Pferdehaar. Seine Hände zitterten. Jowa saß daneben und starrte auf eine Landkarte.
    »Es gibt gompas «, sagte Shan zu Bajys. »Gendun hat gesagt, es gäbe noch immer gompas der Yakde-Sekte. Er sagte, sie stammten aus der Zeit des Königreiches. Damals sind viele Armeen durch dieses Gebiet gezogen. Vielleicht bedeutet das, daß man die Klöster entlang der alten Reichsstraßen errichtet hat. Wie weit ist es von hier bis zur nächsten dieser Routen?«
    Bajys schüttelte nur den Kopf.
    »Wenn Khitai am Leben wäre«, Shan ließ nicht locker, »und du wüßtest von Laus Tod und müßtest den Jungen an

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