Das Auge von Tibet
in die nördliche Grenzregion geschickt, um dort alles für die Unterbringung seiner Reinkarnation vorzubereiten. Als dann die Zeit gekommen war, begleitete Bajys ihn, denn Bajys hatte eine Ausbildung als Novize erhalten und stammte aus einer dropka -Familie, so daß ihm die Gebräuche der Hirten vertraut waren.«
Shan erinnerte sich, daß Laus Akte lediglich Unterlagen aus den letzten zehn Jahren aufwies. Das alles war wegen des kindlichen Lama geschehen: ihre Reise nach Yutian, ihre Wahl in den Landwirtschaftsrat und ihre Adoption der zheli , die jedoch weitaus mehr als nur eine strategische Maßnahme darstellte. Lau hatte die Kinder aufrichtig geliebt, und so war es ihr auf geschickte Weise gelungen, einerseits ein Versteck zu erschaffen und andererseits dennoch wahrhaftig zu bleiben. »Aber Lokesh hat gesagt, sie hätten zusammen gespielt.«
Gendun wandte sich lächelnd zu dem alten Mann um. »Ja, das stimmt. Khitai war damals noch ein kleiner Junge in seiner früheren Inkarnation, und Lokesh hat ihn zu jener Zeit gut gekannt. Khitai würde ihn wiedererkennen und wissen, daß ein Freund eingetroffen ist.« Gendun schaute zum Fenster hinaus. »Und im schlimmsten Fall würden wir seine Artefakte, seine besonderen Besitztümer an uns nehmen.«
Shan mußte daran denken, wie Lokesh an Khitais Grab gestanden und die Habseligkeiten des Jungen angestarrt hatte, als würden sie zu ihm sprechen.
»Falls Peking davon erfahren hätte, würde es versuchen, all diese Dinge in seinen Besitz zu bringen, um das Auswahlverfahren zu verhindern«, sagte Lokesh mit gequälter Stimme.
Shan erschauderte. »Aber du hast nicht alles gefunden«, sagte er zu Lokesh. »Der Jadekorb fehlt.«
Lokesh seufzte. »Ja. Wir haben die silberne Tasse, mit der mein Freund, der Neunte, das Wasser aus dem Orakelsee bei ihrem ältesten gompa geschöpft hat. Wir haben das Etui. Aber wir haben nicht das Wichtigste von allem, sein gau . Wir brauchen das gau . Es ist sehr alt. Es hat schon immer dem Yakde Lama gehört.«
»Jetzt hat es der Mörder«, stellte Shan niedergeschlagen fest. »Er hat Khitai gefunden.« Er starrte auf seine Hände herab. »Daher werde ich den Mörder finden und das gau zurückholen.«
»Gegen die Regierung hast du keine Chance«, sagte Jowa.
Shan hob den Kopf und sah ihn an. »Glaubst du wirklich, daß sie sich alle gemeinsam verschworen haben?«
»Natürlich. So gehen sie immer vor. Und alles wird aus Peking gesteuert.«
»Ich weiß nicht«, sagte Shan. »Es hat sich so manches verändert.«
Jowa schüttelte langsam den Kopf.
Lokesh stand auf, streckte seine Hände über die Kohlenpfanne aus und atmete den duftenden Wacholderrauch ein. »Also müssen wir aufbrechen«, verkündete er mit seltsamer Entschlossenheit.
»Ja«, seufzte Gendun und erhob sich vom Tisch. Er schwankte ein wenig und stand auf wackligen Beinen. »Vielleicht sollte ich zuerst noch einige Stunden ausruhen.«
Shan sah seine beiden Freunde mit neuerlicher Hoffnung an. »Ihr könnt in wenigen Tagen zurück in Lhadrung sein.«
Jowa nickte energisch. »Ich werde uns einen Lastwagen besorgen.«
Die beiden Tibeter sahen ihn offenkundig verwirrt an. »Nicht nach Lhadrung«, sagte Gendun. »Nach dort unten, in die Welt.
Dort werden wir gebraucht.«
»Nein, Rinpoche«, wandte Shan erschrocken ein. »Bitte.«
»Khitai ist tot«, sagte Gendun ruhig, »und jetzt gibt es dort den Geist eines Jungen, unentwickelt, unvorbereitet und immer noch darum bemüht, das Geschehene zu begreifen. Er benötigt unsere Unterstützung. Sogar für einen tulku kann es schwierig werden, falls er im Verlauf seiner letzten Inkarnation nicht zu vollständiger Erkenntnis gereift ist. Wir werden ihm helfen. Ein unsicherer Geist hält vielleicht nach vertrauten Gesichtern Ausschau. Wir müssen versuchen, ihn ins nächste Leben überzuleiten. Und du mußt den Jadekorb finden.«
»Bitte«, wiederholte Shan verzweifelt und ging einige Schritte auf Gendun zu. »Was könntet ihr tun? Nichts. Dort unten sind die Kriecher, die Brigade und die Anklägerin. Ich kann das gau nur finden, wenn ihr euch in Sicherheit begebt.«
»In Sicherheit?« sagte Gendun langsam, als sei das Wort ihm nicht geläufig. »Wir können zum Grab des Jungen gehen. Wir können beten und meditieren. Dann werden wir den Zeichen folgen.«
Du ermittelst in deiner Welt, und wir werden in unserer ermitteln, wollte Gendun damit sagen.
»Nein«, flehte Shan voller Furcht. »Seine Grabstätte wird von der Anklägerin
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