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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Behältnis mit eingelegten Rüben zum Vorschein. Dann verspeisten sie das frugale Mahl mit großem Behagen, während vor der Fensteröffnung allmählich ein nahezu runder, strahlend heller Mond aufging. Am freien Ende des Tisches hatte Lokesh die Gegenstände aus Khitais Beutel ausgebreitet. Die verbeulte Tasse. Das Etui, die eiserne Kette, die Perlenstränge.
    Nach dem Essen säuberte Shan den Topf und setzte Teewasser auf. Lokesh entdeckte ein Bündel Weihrauch und entzündete drei Stäbchen, während Shan dem Lama von Khitais Tod berichtete.
    Gendun seufzte. »Für ein Kind ist es sehr schwierig, den eigenen Weg zu finden«, erklärte er. Seine Schultern sackten herab, und er sah wie ein gebrechlicher alter Mann aus.
    »Ich werde morgen mit Jowa reden, Rinpoche«, sagte Shan zu dem Lama, während Bajys den Raum verließ. Der kleine Tibeter war atemlos erstarrt, als er von dem Mord an Khitai hörte. Doch er hatte den Blick nicht vom Boden abgewandt und keinerlei Kummer, ja nicht einmal Überraschung erkennen lassen. Für ihn war Khitai bereits im Lager des Roten Steins gestorben, als Bajys einen toten Jungen fand und zu dem Schluß gelangte, das Ende seiner Welt sei gekommen. »Die Soldaten halten nach Tibetern Ausschau«, fuhr Shan fort. »Jowa kennt sich mit Soldaten aus. Ihr müßt euch von ihm in Sicherheit bringen lassen.« Aus dem Gang erklang wieder das leise Rumpeln. Bajys drehte die alte Gebetsmühle. »Ihr beide, du und Lokesh, müßt euch tiefer nach Tibet hinein und weg von der Grenze begeben.« Für ein Kind ist es sehr schwierig. Die Worte hallten in Shans Kopf wider. Gendun meinte, ein totes Kind würde große Probleme haben, den Übergang in die nächste Inkarnation zu bewältigen.
    Der Lama sah durch die Öffnung auf den Ausschnitt des Nachthimmels. »Ich habe einmal mit einem Mönch gesprochen, der viele Jahre dort unten verbracht hat«, sagte er und bezog sich damit auf die Welt außerhalb der tibetischen Hochlande. »Aufgebrochen war er frohen Mutes, doch zurückgekehrt ist er mit vielen traurigen Neuigkeiten. Er hat mir erzählt, daß viele Menschen vom Weg abgekommen seien und die Stimmen ihrer Herzen ignorierten, weil es ihnen sicherer erschien. So unglaublich das klingen mag, er war der Meinung, es gäbe dort unten Millionen von Leuten, die in erster Linie alt werden wollten, als wären sie Sklaven ihrer Körper.«
    Gendun nahm eines der Weihrauchstäbchen und schwenkte es langsam über dem Tisch hin und her. »Anstatt sich als Menschen gegen das Böse zu wenden, sagte er, würden sie einfach behaupten, das sei Sache der Regierungen. Und die Regierungen sagten dann, zum Erhalt der Sicherheit müsse es Armeen geben, also würden Armeen ausgehoben. Die Armeen wiederum bestünden auf Kriegen, um Sicherheit zu garantieren, also würden Kriege geführt. Und Kriege töten Kinder und verschlingen Seelen, die keine Gelegenheit hatten, Reife zu erlangen. Und das alles nur, weil die Menschen lieber alt werden wollen, anstatt wahrhaftig zu sein.«
    »Das ist der Lauf der Welt«, seufzte Lokesh.
    Shan goß Tee in drei angeschlagene Becher ein, und sie tranken in vollkommener Stille.
    »Ich habe nie damit gerechnet, alt zu werden, Rinpoche«, sagte Shan schließlich.
    Gendun lachte leise auf. Er musterte Shan über den dampfenden Becher hinweg und schaute dann zu der Fensteröffnung. »Manchmal frage ich mich, ob ich wohl all diese Jahre mit Scheuklappen gelebt habe. Habe ich den einfachen Weg gewählt, während so viele andere leiden mußten?«
    »Es gibt in Tibet keinen einfachen Weg, Rinpoche«, sagte Shan. Mit einem Stich im Herzen wurde ihm bewußt, daß er zum erstenmal seit ihrem Zusammentreffen so etwas wie Bedauern in Genduns Stimme mitschwingen hörte. »Und du hast auch nicht mit Scheuklappen gelebt. Du bist wahrhaftig geblieben.« Der alte Lama starrte noch immer zum Fenster hinaus. »Manche Menschen sind wie unersetzliche Schätze. Du bist für uns alle so lebenswichtig, daß ich und Jowa und viele andere dich unbedingt beschützen müssen.«
    »Ich habe viele Jahrzehnte in Höhlen gelebt«, sagte Gendun.
    »Es hat sich für mich nie so angefühlt, als würde ich mich verstecken. Bis jetzt.«
    Shan legte die Hände um seinen Becher und sah Gendun an. »Tante Lau hat sich ebenfalls versteckt, und das war richtig von ihr.«
    Gendun wandte sich ihm zu. »Aber sie ist nicht geflohen.«
    »Nein«, räumte Shan ein. »Sie hat jemanden geschützt. Den Jungen. Sie hat ihn geschützt und

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