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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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man glauben konnte, er habe schlichtweg das Bewußtsein verloren.
    Als Shan zurückkehrte, befand Lokesh sich nicht mehr in dem Speiseraum. Shan wußte, wo er ihn finden würde. Er stieg über den schlafenden Bajys, der quer vor der Schwelle der duftenden Kammer lag, und sah den alten Tibeter neben einer einzelnen Öllampe sitzen. Mit Gendun. Der Lama hatte sich mit einem gomthag-Band gesichert, einem Stoffstreifen, den Einsiedler sich um Knie und Rücken knoteten, damit der Körper nicht umkippte, solange der Geist sich anderswo aufhielt.
    Denn Gendun war tatsächlich nicht anwesend.
    Shan hatte schon häufig Leute in tiefer Meditation erlebt und auch selbst bereits viele Stunden in Folge meditiert, aber das hier war neu für ihn. Die Augen des Mannes standen offen, aber er sah nichts. Auch sein Atem schien aufgehört zu haben. Shan beugte sich mit einer Lampe tief hinab und beobachtete Genduns Handgelenk. Es war kaum ein Puls zu erkennen, abgesehen von einem winzigen Zucken alle paar Sekunden. Die größte Gefahr beim Zwiegespräch mit Bergen bestand darin, daß man selbst zu einem Berg werden konnte, dachte Shan.
    Sie warteten eine Stunde ab. Lokesh entzündete mehr Weihrauch und stimmte ein Mantra an. »Om gate gate paragate parasamgate bodhih svaha.« Shan hatte den uralten Sprechgesang im Gefängnis gelernt, aber kaum je gehört, daß er benutzt wurde. »Entschwunden, vollständig entschwunden, absolut übergegangen in einen Zustand der Erleuchtung«, lautete die Übersetzung dieser Worte. Genau wie Shan suchte auch Gendun nach der Wahrheit.
    Shan entzündete weitere Lampen. Der alte Lama regte sich noch immer nicht. Drei Tage, hatte Jowa gesagt. So stark Genduns Geist auch sein mochte, sein Körper war nicht mehr jung, und Shan machte sich große Sorgen deswegen. Er stand auf und holte eine Kelle mit Wasser von der steinernen Zisterne am hinteren Ende des Zellenkorridors. Aber Genduns Kopf war keinen Millimeter zur Seite geneigt und sein Mund geschlossen, so daß Shan kein Wasser hineinträufeln konnte. Er wagte es nicht, Gendun zu berühren, geschweige denn, den Kopf des Lama in den Nacken zu beugen, weil ein Körper in diesem Zustand mit einer ganz eigenen Art von Angst reagierte. Selbst die leiseste Berührung konnte zu einem Krampf oder einer derart heftigen Zuckung führen, daß Verletzungsgefahr bestand. Stell ihn dir als ein dünnwandiges Tongefäß vor und deinen Finger als die Spitze eines Nagels, hatte ein Mönch einst zu Shan gesagt, um die Situation eines in tiefer Meditation versunkenen Eremiten zu verdeutlichen.
    Shan ließ ein paar Wassertropfen auf Genduns Hände fallen. Zunächst erfolgte gar keine Reaktion. Dann lösten sich ganz langsam, den suchenden Ranken einer Pflanze gleich, die Finger voneinander und betasteten wie aus eigenem Antrieb die Handrücken. Shan fügte einige weitere Tropfen hinzu. Die Finger fanden die Flüssigkeit und führten sie an die Lippen, die daraufhin zu zittern begannen. Dann senkten sich die Hände, und Shan wiederholte die Prozedur. Genduns Augen rührten sich nicht. Shan ließ das Wasser ein viertes Mal tröpfeln, und endlich erfolgte ein Blinzeln. Er hörte Lokesh erleichtert seufzen und hob den Schöpflöffel an Genduns Mund, der sich bereitwillig öffnete. Shan ließ ihn ein Viertel des Inhalts trinken und lehnte sich dann mit ebenfalls großer Erleichterung zurück. Es mochte noch immer eine Stunde bis zu Genduns Rückkehr dauern, aber das Wasser sendete ein eindeutiges Signal und brachte dem Lama zu Bewußtsein, daß wenigstens ein Teil von ihm nach wie vor erdgebunden war.
    Sie blieben in der Duftkammer sitzen, bis Gendun tief und vernehmlich ausatmete. Dieses Geräusch beim Erwachen aus einem tiefen Schlaf war typisch für viele der Mönche, die eine Ausbildung in den alten gompas genossen hatten. Seine Atemfrequenz stieg an, und sein Blick gewann blinzelnd an Schärfe. Einen Moment lang sah er Lokesh und Shan an, als würde er sie nicht erkennen, aber dann legte sich ein heiteres Lächeln auf seine Miene.
    »Wißt ihr«, sagte er heiser, jedoch in völlig beiläufigem Tonfall, als hätten sie sich die ganze Zeit unterhalten, »ich verspüre einen gewaltigen Hunger.«
    Sie fanden einen Sack Gerstenkörner, entfachten das Feuer in der Kohlenpfanne und rösteten das Getreide, um tsampa zuzubereiten. Lokesh holte von der Zisterne einen Tontopf voll Wasser, und Bajys, der wieder aufwachte, aber genauso schwach und erschöpft wie Jowa wirkte, brachte ein

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