Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
Vom Netzwerk:
einen anderen Ort bringen, wohin hättest du dich gewandt?«
    Bajys bürstete weiter. »An geheime Orte«, sagte er und blickte über die Schulter zu den Fenstern, als könnte dort draußen jemand schweben und sie belauschen. »Lau kannte diese Orte«, flüsterte er und warf Shan einen entschuldigenden Blick zu. »Sie hätte niemals sterben dürfen.«
    Jowa musterte Bajys mit merkwürdig erwartungsvoller Miene, als würde er sich jeden Moment an ihn wenden wollen, um die Seele des gepeinigten Mannes endlich ins Gleichgewicht zu bringen. Oder vielleicht auch nur, um ihn zu umarmen, zu trösten und ihm zu versichern, daß er nichts Falsches getan hatte.
    »Meinst du damit Orte, die nicht registriert wurden?« fragte Shan. Kein Kloster durfte den Betrieb aufnehmen, solange keine entsprechende Genehmigung des Büros für Religiöse Angelegenheiten vorlag.
    »Ich weiß über die Yakde-gompas Bescheid. Ich habe davon gelesen«, sagte Jowa und warf Shan einen bedeutungsvollen Blick zu. Die purbas führten über die Greueltaten der Chinesen beständig Buch. »Sie lagen stets sehr abgeschieden. Fern von allen anderen Einflüssen und mitunter jahrelang ohne Kontakt zur Außenwelt. An Orten, wo niemand sonst leben wollte, weil kaum jemand sich vorstellen konnte, daß dort ein Überleben möglich sei. Sie starben aus, auch bevor das Büro für Religiöse Angelegenheiten mit der Suche nach ihnen begann. Manche wurden geschlossen und die Mönche inhaftiert. Aber einige lagen zu weit weg von allem und waren so winzig, daß die Regierung sich deswegen keine großen Sorgen machte. Die Luftwaffe flog drei oder vier Bombenangriffe und kümmerte sich nicht um den Rest. Es hieß, daß in einigen der Klöster Krankheiten ausgebrochen seien und alle Mönche getötet hätten.«
    »Aber Bajys«, sagte Shan und legte dem nervösen Mann eine Hand auf die Schulter. Dann führte er ihn sanft zu der Bank und ließ ihn Platz nehmen. »Man hat dir doch bestimmt irgendeine Anweisung erteilt. Einen Ort genannt, an den Khitai notfalls gebracht werden sollte, falls es Schwierigkeiten gab. Ein dropka wie du würde sich doch bestimmt in den Bergen zurechtfinden.«
    Bajys hob eine Hand an die Stirn, als habe er Kopfschmerzen. »Lau. Ich sollte zu Lau gehen.«
    »Hat sie je einen anderen Ort erwähnt? Womöglich ist sie bisweilen selbst dort gewesen. Oder der Wasserhüter ist hingegangen.«
    »Ein Diamantsee«, sagte Bajys. »Ich weiß bloß, daß sie einmal zur Stärkung an einen Ort mit einem Diamantsee gereist ist.«
    Jowas Kopf ruckte hoch. »Ein paar Meilen von hier gibt es einen See, einen heiligen See, einen Orakelsee. Ich habe ihn einmal aus der Entfernung gesehen, zusammen mit einem alten Jäger. Er sagte, das Wasser dort friere erst viel später als anderswo. Und angeblich leben Gottheiten darin, weil es immer so funkelt wie ein Diamant.«
    Seit einigen Stunden marschierten sie schweigend durch das öde Hochland, lauschten auf jedes Geräusch und rannten sogar in Deckung, wenn der Wind plötzlich lauter toste, weil sie befürchteten, es könne sich ein Flugzeug oder Hubschrauber nähern. Sie folgten den Pfaden der Wildziegen und orientierten sich anhand der fernen Gipfel, die Jowa immer wieder prüfend betrachtete, als würde er in Gedanken die Position der Gruppe berechnen. Der purba , führte sie um ein Tal herum, in dem eine kleine Antilopenherde flüchtete, überquerte dann einen Felssattel und begann mit dem Anstieg auf einen langgezogenen Grat. Es ging steil bergauf. Zweimal hielten sie an hochgelegenen Stellen an, um den dort errichteten Felshaufen eigene Steine hinzuzufügen, die als Opfer für die Berggötter dienen sollten. Eine Stunde lang flog immer wieder ein Rabe über sie hinweg, beobachtete sie genau, umkreiste sie und setzte sich einige Male auf einem Felsen nieder, als würde er sie erwarten. Bajys, den Shan grundsätzlich vor sich gehen ließ, blieb häufig stehen, um das Tier anzustarren, als würde er es irgendwie erkennen.
    Sie kletterten immer höher, überquerten einen weiteren Paß und folgten dann einem steilen Serpentinenpfad. Shan war bereits seit einigen Jahren an die Höhenluft Tibets gewöhnt, doch nun rang er zum erstenmal wieder keuchend nach Sauerstoff. Sie stießen auf einen Bach aus blauem Schmelzwasser vom Gletscher und stillten ausgiebig ihren Durst. Jowa blieb am Ufer kauern. »Hast du Lokesh eigentlich verraten, wo der Wässerhüter ist?« fragte er Shan.
    Shan stand auf und sah den purba an. »Er war

Weitere Kostenlose Bücher