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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Felsen, nur ein Felsen, eine flache Steinscheibe mit einem großen rundlichen Geröllblock darauf. Aber der Geröllblock lächelte.
    Dann hörten sie wieder das dumpfe Klopfen, und Bajys kauerte sich nieder, als verspüre er Angst. Shan kam näher, und das Lächeln des Felsblocks wurde breiter. Bajys kauerte sich nicht zusammen, erkannte Shan. Der dropka verneigte sich.
    Aus dem Geröllblock streckte sich nun ein grauer Arm, der das Ende eines kurzen Holzstabs hielt, und als dieser auf den Felsen schlug, erklang abermals das Klopfgeräusch. Der Rabe krächzte und hüpfte näher heran.
    Shan kniete nieder, und Jowa tat es ihm gleich. Sie sahen, wie der Felsblock ein Stück nach vorn zu rücken schien und immer noch lächelte.
    »Ai yi!« stieß Bajys keuchend hervor.
    In der Dunkelheit über dem Lächeln regte sich etwas, und zwei Augen tauchten auf.
    Es handelte sich um einen alten Mann in einem grauen Schaffellmantel und einer kegelförmigen Mütze aus dem gleichen Material, die bis weit in seinen Nacken reichte und tief ins Gesicht gezogen war, so daß seine Augen verdeckt wurden, sobald er den Kopf neigte. Nun richtete sich der vor Kraft funkelnde Blick des Mannes nacheinander auf jeden der drei Neuankömmlinge. Er klopfte erneut mit seinem Stab auf den Felsen.
    »Nach dem Schnee klingt mein Stab immer besonders laut«, sagte er verwundert und klopfte aus reinem Vergnügen ein weiteres Mal. Seine Stimme klang heiser, und er sprach ziemlich langsam, als sei er aus der Übung gekommen. Seine Haut glich grauem Pergament, und seine Finger waren lang und knorrig, als hätte man sie aus Kieselsteinen zusammengefügt.
    Shan sah Bajys und Jowa an. Die beiden Tibeter wirkten völlig überwältigt.
    Der Kopf des Mannes hob sich, und seine Augen schlossen sich für einen Moment. »Wenn der Wind aufhört, müßt ihr dem Wasser lauschen«, flüsterte er. »Ihr könnt es schimmern hören.«
    »Wir suchen nach dem gompa «, sagte Shan mit zitternder Stimme.
    Der Mann neigte den Kopf zur Seite und brach in schallendes Gelächter aus, das in einer Reihe schnaufender Geräusche endete. Dann stand er abrupt auf, als hätte ihn eine unsichtbare Kraft emporgezogen. Er trat zwischen Shan und Jowa und blieb stehen, um dem Raben einen Blick zuzuwerfen. Der Vogel nickte dem Mann zu, wandte sich in Richtung des Sees und verschwand, indem er einfach über die Kante des Vorsprungs hüpfte.
    Der Mann lachte wiederum, trat in einen der Schatten und schien wider jede Logik im Boden zu versinken.
    Bajys keuchte entsetzt, sprang auf und trat vor, als wolle er dem Fremden zu Hilfe eilen. Aber der Mann war im Felsen verschwunden.
    »Ein Zauberer«, rief Bajys.
    »Nein«, sagte Shan, der langsam zu begreifen begann. »Eine Treppe.«
    Sie wagten sich in den Schatten vor und entdeckten eine schmale Stiege, die man mitten in den gewachsenen Fels gehauen hatte. Die einzelnen Stufen waren durch Jahrhunderte des Gebrauchs in der Mitte ausgehöhlt. Bajys lief, ohne zu zögern, voran und verschwand nach unten in die Dunkelheit. Jowa und Shan tauschten einen nervösen Blick aus und folgten ihm.
    Sie gelangten nicht etwa in eine Höhle, wie Shan vermutet hatte, sondern in einen halbdunklen Raum aus gemauerten Steinwänden, der direkt an der Klippe errichtet worden war. Das wenige Licht stammte von einer einzelnen Butterlampe. Sie stand vor einem langen thangka , auf dem ein leuchtendblauer Buddha abgebildet war. Der Ursprüngliche Buddha wurde er genannt - der Buddha der Reinen Erkenntnis. Am Fuß der Felsentreppe stand eine von Spinnweben überzogene Kohlenpfanne. Die vordere und die gegenüberliegende Seitenwand wiesen jeweils eine schwere Holztür auf. Shan versuchte sein Glück an der Vorderwand. Die Tür öffnete sich langsam in eine Kammer, von deren Fenster aus man das Tal überblicken konnte.
    Über der steinernen Fensternische lag auf zwei in den Mörtel getriebenen Holzpflöcken eine Stange, an der die Überreste eines alten Jutesacks hingen und einen Teil der Öffnung verdeckten. Entlang der Wand lagen Kissen und auf einem davon ein kleiner Bogen, wie Shan ihn in Senge Drak benutzt hatte. Trotz der dicken Staubschicht konnte Shan erkennen, daß manche der Kissen aus Seide bestanden und mit den Abbildern von Seemuscheln, Fischen, Lotusblumen und anderen heiligen Symbolen bestickt waren. Das alles hier wirkte wie eine kleine dukhang, die Versammlungshalle eines Klosters, in der Unterrichtsstunden abgehalten wurden.
    Shan blieb schweigend stehen,

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