Das Auge von Tibet
zumindest anwesend, als ich davon erzählt habe«, antwortete er langsam, bemerkte dann die Sorge in Jowas Blick und verstand. Gendun und Lokesh versuchten vielleicht, den Wasserhüter zu finden, weil dieser eine Verbindung zu dem toten Jungen darstellte. Shan schloß die Augen und kämpfte gegen das Bild an, das in ihm aufstieg. Falls der Lama zu dem Schluß gelangte, er müsse das Lager Volksruhm aufsuchen, würde er geradewegs zum Zaun und damit den Kriechern und Anklägerin Xu direkt in die Arme laufen.
Vor ihrem Aufbruch sammelte Bajys ein Dutzend Steine und errichtete daraus einen kleinen Felshaufen, um der Gottheit, deren Berg sie bestiegen, angemessenen Tribut zu zollen. Es war für ihn eine Art Buße, die wenigstens teilweise auch Khitais Tod sühnen sollte, erkannte Shan.
Sobald Bajys seine Arbeit verrichtet hatte, wollte er sich wieder auf den Weg machen, doch Jowa und Shan verweilten noch einen Moment und fügten dem Haufen ebenfalls einige Steine hinzu. Shan wußte, daß sie beide die stille Befürchtung teilten, Lokesh und Gendun könnten beim Lager Volksruhm gefangengenommen werden.
Je höher sie stiegen, desto mehr hatte Shan den Eindruck, eine andere Welt zu betreten. Bajys schien es ebenso zu ergehen. Er wurde langsamer und wollte Shan vorbeilassen, um ein Stück zurückzubleiben, aber Shan drängte ihn voran. Ein Schneegestöber hüllte sie ein und entzog Jowa ihren Blicken, doch seine Fußabdrücke waren im Weiß noch deutlich zu erkennen, und so folgten sie ihm.
»Falls Jowa sich irrt, werden wir hier oben in der Kälte sterben«, sagte Bajys, als Shan zu ihm aufschloß, und klang dabei auf einmal sehr überzeugt. Sie hatten nur eine einzige Decke dabei und dazu als Verpflegung einen kleinen Beutel mit kaltem tsampa. Von Brennmaterial für ein Feuer fehlte weit und breit jede Spur.
Der Himmel wurde schlagartig klar und leuchtete in einem tiefen Kobaltblau.
Als Shan sich umwandte, sah er, daß der Schnee keinesfalls aufgehört hatte. Sie hatten den Sturm unter sich zurückgelassen.
Sie gingen noch eine Stunde weiter, überquerten den nächsten Kamm und stießen schließlich auf Jowa. Er erwartete sie auf einem kleinen Felsvorsprung, der sich über einem außergewöhnlichen Tal erhob. Sie standen am nördlichen Ende einer kilometerlangen Ebene aus Schotter und vertrocknetem Gras, die sich zwischen zwei langen massiven Felswänden erstreckte. Die Wände waren dermaßen symmetrisch, daß es so schien, als hätten am Nordende der Fläche einst zwei gewaltige Monolithen aufgeragt, die jemand dann umgestoßen hatte, so daß zwischen ihnen ein geschütztes Tal entstand. Vor dem anderen Ende befand sich ein stiller und klarer See, der wie ein herabgestürztes Stück des Himmels aussah. Die Wände fielen zum Wasser hin in beinahe identischen Winkeln ab und waren an der Oberkante jeweils mit einer so geraden Schneeschicht bedeckt, als hätte ein Bäcker sie mit Zuckerguß überzogen. Überraschenderweise wuchsen am Seeufer trotz der Kälte und Höhe ein paar knorrige Wacholdersträucher. In weiter Ferne ragten einige Berggipfel aus dem Dunst, doch zwischen ihnen und dem Tal lag nur freier Himmel. Shan dachte daran, wie sie den Schneesturm hinter sich gelassen hatten. Es war, als hätten sie ein Land erreicht, das in den Wolken schwebte.
»Das hier müßte es sein«, sagte Jowa mit besorgtem Blick. Sie würden es nicht schaffen, vor Einbruch der Dunkelheit nach Senge Drak zurückzukehren.
Shan trat an seine Seite und blickte über die Kante des Vorsprungs, auf dem sie standen. Hundert Meter unter ihnen, als Abschluß einer Folge von Vorsprüngen, die wie gewaltige Stufen aus der Klippe ragten, stand eine Felsreihe. Nein, sah er, keine Reihe, sondern eine Mauer.
Die Stille wurde plötzlich ganz in der Nähe durch ein dumpfes, lautes Klopfen unterbrochen, so daß Shan erschrocken zusammenzuckte. Wie zur Antwort ertönte der Schrei eines Raben, und als Shan den Kopf hob, sah er den großen schwarzen Vogel in zehn Metern Entfernung auf einem Felsen landen. Aus irgendeinem Grund wußte er, daß es derselbe Vogel war, der sie zuvor bereits verfolgt hatte.
Jowa packte seinen Arm, und Shan folgte dem Blick des purba zu Bajys, der neben einem flachen, im Schatten gelegenen Felsen auf die Knie gefallen war. Bajys' Gesicht trug den gleichen Ausdruck des Erstaunens, der auch Lokesh manchmal zu eigen war, wenn ihm ein Einblick zwischen die Welten gelang. Zögernd trat Shan einen Schritt vor.
Es war ein
Weitere Kostenlose Bücher