Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
Vom Netzwerk:
hätten, würde ich mich besser fühlen«, sagte Jowa mit schwerer Stimme.
    Shan nickte schweigend. Die Kriecher waren unantastbar. Unter keinen Umständen würde das Justizministerium sie strafrechtlich verfolgen, und für die purbas oder Maos wäre es reiner Selbstmord, etwas gegen Bao zu unternehmen. Das alles fühlte sich nicht im mindesten wie ein Abschluß an. Sie hatten eher den Eindruck, es sei ihnen gelungen, in die Höhle des Ungeheuers zu schleichen und einen kurzen Blick darauf zu werfen, nur um feststellen zu müssen, wie riesig es war. Zudem war Shan mehr als je zuvor davon überzeugt, daß Bao nur einen Teil der Antwort darstellte. Er deutete auf die Karte. »Da ist noch jemand«, sagte er bedrückt und wies auf den Rand der Wüste, wo nach seiner Einschätzung Karatschuk liegen mußte. »Lau. Sie wurde als erste ermordet.«
    Der Junge zögerte und versah die Stelle dann mit einer Nummer. Einer Null.
    »Es ist ganz einfach für Bao. Die meisten der Jungen wurden bei ausgewiesenen wirtschaftlichen Produktionseinheiten untergebracht«, sagte Jowa. »Die Viehzuchtbetriebe. Jeder davon verfügt über eine registrierte Anzahl von Weidegründen und Lagern.«
    »Und die sind den Kriechern bekannt«, sagte Fat Mao.
    »Und der Brigade, der Anklägerin sowie jedem anderen, der Zugriff auf die Datensätze nehmen kann«, fügte Shan mit einem Blick auf den Uiguren hinzu.
    »Deiner Ansicht nach ist es also nicht nur Bao«, stellte Fat Mao fest.
    »Natürlich nicht«, warf Jowa ein. »Es gibt jede Menge Kriecher. Allein in Yutian hat er bereits eine ganze Kaserne voller Hilfskräfte.«
    Shan zuckte die Achseln. »Dennoch verrät der gestrige Angriff auf den Jungen uns nichts über Baos Ziele. Immerhin wissen wir, daß er nicht mit Khitai aufgehört hat. Und das bedeutet«, sagte er leise und brachte damit die Gedanken zum Ausdruck, die ihm eben erst in den Sinn kamen, »daß er den Jadekorb noch nicht gefunden hat. Khitai hat den Gegenstand an einen anderen weitergegeben. Er befindet sich nach wie vor irgendwo dort draußen bei den Jungen. Und der Schlüssel zu allem ist weiterhin Laus Tod. Erst nach Laus Enttarnung konnten die Kinder gefunden werden. Sobald der Mörder wußte, daß Lau Tibeterin und zudem eine ani war, wußte er auch, daß der von ihm gesuchte Junge sich in den Reihen der zheli aufhalten mußte. Danach war es relativ einfach, die Kinder aufzuspüren.«
    »Aber Lau hielt sich schon viele Jahre hier auf«, sagte Jowa. »Weshalb sollte jemand sie ausgerechnet jetzt verdächtigen?«
    »Weil es ein Treffen mit einem General in Urumchi gab«, erwiderte Shan. »Alles ist nach diesem Treffen geschehen. Kaju wurde nach Yutian versetzt, und Laus politische Verläßlichkeit geriet in Verruf. Ko fing an, eine Kampagne zum Aufkauf der einzelnen Clans zu starten.«
    Fat Mao blickte auf. »Das Programm zur Beseitigung der Armut?« Er stieß die Worte wie eine Verwünschung hervor. »Das hat bestimmt nichts damit zu tun.«
    »Doch, meiner Ansicht nach hat es das. Dieses Memo, das Sie Xu wieder abgenommen haben. Haben Sie es gelesen?«
    Der Uigure nickte.
    Der älteste der anwesenden Tibeter, ein Mann mit den verkniffenen Gesichtszügen eines khampa , stand auf und goß sich einen Tee ein. »Kennst du seinen Namen?« fragte er. »Den Namen dieses Generals aus Urumchi?«
    »Rongqi«, sagte Shan. »Das ist alles, was ich weiß. Ein früherer Armeeoffizier und inzwischen stellvertretender Vorsitzender der Brigade. Aber sie nennen ihn immer noch General.«
    Der Mann sah den Jugendlichen an, der sich daraufhin eilends von seinem Platz erhob und den Raum verließ. Kurz darauf kehrte er mit einem dicken Buch zurück. Er legte es auf den Tisch und fing an, die Seiten zu überfliegen. Jowa schaute ihm dabei über die Schulter.
    Shan hatte Bücher wie dieses zuvor schon gesehen. Die purbas nannten es das Lotusbuch, ein inoffizielles Verzeichnis der Verbrechen gegen das tibetische Volk, die ständig erweiterte Chronik der Menschen, Orte und Schätze, die seit der chinesischen Invasion verlorengegangen waren. Die Einträge und Abschriften entstammten zumeist Gesprächen mit Überlebenden, und da die Informationen sofort bei Bekanntwerden verzeichnet wurden, befanden sie sich in keiner besonderen Reihenfolge.
    Während der junge purba und Jowa die Seiten durchblätterten, sprach Shan mit den anderen über Gendun und Lokesh. Es war derzeit zu riskant, weitere Tibeter nach Xinjiang zu schicken, aber Fat Mao versprach, nach seiner

Weitere Kostenlose Bücher