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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Mönche und Nonnen verschwunden. Shan fragte, ob Laus Nonnenkloster, das bei Shigatse neben dem kleinen gompa , des Yakde Lama gestanden hatte, auf der Liste der von Rongqi zerstörten Stätten verzeichnet war. Der purba las stumm ein Stück weiter, hob dann den Kopf und nickte langsam.
    »Sie hat ihn an jenem Tag in Urumchi erkannt«, sagte Shan. »Der Schlächter aus ihrer Vergangenheit war auf einmal wieder da.« Er erschauderte und dachte daran, wie sehr diese grausige Erkenntnis die standhafte Lau erschüttert haben mußte. Vermutlich hatte ihre unwillkürliche Reaktion alles verraten.
    Der purba las weiter. Während seiner zweiten Dienstzeit wurde Rongqi vom Vorsitzenden höchstselbst für eine Initiative empfohlen, die dieser als Sterilisierung der Saat bezeichnete. Sie basierte auf der Annahme, daß die religiöse Führungsschicht Tibets durch ihre wiedergeborenen Lamas zusammengehalten wurde und daß der Tod eines jeden dieser Lamas eine politisch günstige Gelegenheit für die Volksregierung bedeutete. Idealerweise sollten die Behörden die Auslöschung einer solchen Reinkarnationsfolge gewährleisten, indem sie die Identifizierung der neuen Inkarnation verhinderten. Rongqi erreichte dies in mehr als dreißig dokumentierten Fällen, indem er die Merkmale vernichtete, anhand derer man die neue Inkarnation erkannte, und die Lamas inhaftierte, die traditionell mit dem Verfahren zur Auffindung der neuen Lamas betraut wurden. In einem Fall ließ er durch gezielte Sprengungen einen Orakelsee dauerhaft trockenlegen, der bislang stets nach dem neuen Lama befragt worden war.
    Im Verlauf seiner dritten Dienstzeit institutionalisierte der frisch zum General beförderte Rongqi seine Kampagne, indem er ein Verzeichnis aller noch verbliebenen wiedergeborenen Lamas seiner Militärzone anlegte. Auch die zur Identifikation genutzten Artefakte und Anzeichen wurden vermerkt - die charakteristischen gaus, die besonderen Gewänder, die uralten Gebetsketten -, so daß die Saat nicht nur in seinem unmittelbaren Zuständigkeitsbezirk, sondern in einer Hunderte von Quadratkilometern großen Region Zentraltibets sterilisiert werden konnte. Falls dennoch eine Identifizierung erfolgte, ließ Rongqi das wiedergeborene Kind ergreifen und in eine der besonderen Parteischulen im Osten Chinas befördern. Im Zuge dieser Maßnahmen verwandelte der General das Büro für Religiöse Angelegenheiten seines Bezirks in eine paramilitärische Organisation, die mit seinen eigenen Soldaten besetzt war. Die wenigen ortsansässigen Lamas, die seinem Zugriff entkamen, wurden durch materielle Güter neutralisiert: Er bot den Bauern medizinische Versorgung durch Armeeärzte an, stellte ihnen militäris ches Gerät zur Bestellung ihrer Felder zur Verfügung und sorgte für die Zulassung einer wachsenden Anzahl von Mönchen, solange der Lama einwilligte, die Gegend zu verlassen und für vier oder fünf Jahre eine spezielle chinesische Schule zu besuchen. Die Parteibonzen waren von dem System begeistert. Nur zu diesem Zweck wurde in Peking sogar ein eigenes Institut für tibetische Studien eingerichtet.
    Schließlich überzeugte der General Peking von einer neuen Taktik für Sonderfälle, vor allem wenn Lamas eine potentiell wichtige Rolle für die Einflußnahme auf Wirtschaftsaktivitäten spielten: Man kam der Entdeckung zuvor, indem man selbst einen neuen, dem Staat genehmen Lama proklamierte. Am Ende seiner Dienstzeit, das mittlerweile zwölf Jahre zurücklag, hatten nur vier Lamas sich ihre Unabhängigkeit bewahren können -und von diesen war nur ein einziger Lama, das Oberhaupt eines sehr alten Ordens mit nur einer Handvoll gompas in ganz Tibet, verstorben und wiedergeboren worden. Der Yakde Lama. Der neunte Yakde war unmittelbar vor Rongqis Rückversetzung nach Xinjiang gestorben. Rongqis Antrag, die Arbeit beenden und sich den Tod des Yakde vor Ort zunutze machen zu dürfen, war abgelehnt worden, weil man sein besonderes wirtschaftliches Entwicklungstalent in Xinjiang benötigt hatte. Aber er hatte nicht aufgegeben. Vor fünf Jahren hatte man aus einem Büro der Kriecher in Lhasa die Kopie eines Memos aus Xinjiang entwendet, in dem Rongqi die Öffentliche Sicherheit bat, nach Anzeichen eines neuen Yakde Lama Ausschau zu halten, weil frühere Informanten ihm berichtet hätten, eine tibetische Nonne sei insgeheim mit der Erziehung einer neuen Inkarnation beschäftigt.
    Shan legte sich wieder auf die Pritsche. Er fühlte sich wie betäubt. Es mußte

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