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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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für Lau eine ungeheure Qual bedeutet haben, sich urplötzlich und unvorbereitet Rongqi gegenüberzusehen und im selben Augenblick zu erkennen, daß dies den Anfang vom Ende bedeutete. Wer wäre fähig gewesen, in so einem Moment seine Reaktion zu verbergen? Bestimmt war der General sofort mißtrauisch geworden. Vielleicht hatte er nicht einmal mit Sicherheit von Laus Beziehung zu Khitai gewußt, sondern in ihr lediglich eine verkappte Tibeterin vermutet. Doch eine getarnte tibetische Frau konnte ebensogut eine heimliche Nonne sein, und eine Nonne wäre genau die Verbindung zum neuen Yakde Lama, nach der er suchte. Es hatte Lau nicht überrascht, als Wangtu ihr von ihrer bevorstehenden Abberufung erzählte. Sie hatte lediglich stillschweigende Vorkehrungen zum Schutz des Yakde Lama getroffen. Aber Rongqis Reaktion erfolgte viel schneller, als erwartet; und der Grund dafür, so erkannte Shan, war die Tatsache, daß die Brigade Rongqi wesentlich leistungsfähigere Mittel zur Verfügung stellte als die Armee. Laus Geheimnis flog auf, der Yakde Lama wurde schließlich ermordet, und das alles nur wenige Wochen nachdem sie den einzigen Mann auf der Welt getroffen hatte, der den Yakde unbedingt vernichten wollte. Es ging Rongqi nicht nur um Bestrafung, sondern auch um die Anwendung seiner Prinzipien. Er löschte die gesamte Linie aus, indem er alle Merkmale der neuen Inkarnation vernichtete, was bedeutete, daß die Jungen sich weiterhin in Gefahr befanden, denn Khitai hatte einem von ihnen den Jadekorb gegeben. Ein weiteres Puzzlestück war an die richtige Stelle gerückt. Nun mußte Shan herausfinden, wer in Yutian als Rongqis Handlanger fungierte. Ko war ein Geschäftsmann und zu jung, um einen solchen Haß auf die Tibeter zu verspüren, wie der Mörder ihn empfinden mußte. War es Xu, oder verachtete sie die Tibeter einfach nur aus den üblichen Gründen? Oder hatte Bao die ganze Zeit auf eigene Faust gehandelt? Nein. Bao war ein Kriecher, wurde von Kriecher-Ambitionen getrieben und durch Kriecher-Arroganz bestimmt. Er würde vermutlich keine Befehle der Brigade entgegennehmen, auch wenn sie von zweithöchster Stelle stammten. Bao folgte der Spur der Jungen, um die Amerikaner zu finden, eine Spur, auf die er bereits vor Laus Tod gestoßen war. Rongqis Handlanger suchte die Jungen, um den Yakde Lama aufzuspüren. Das nächste Teil von Shans Puzzle fügte sich ein. Die anderen hingegen blieben allesamt genauso unklar wie zuvor. Mit Sicherheit wußte Shan nur, daß die Mörder nach wie vor die Jungen verfolgten. Und falls Gendun und Lokesh ihnen dabei in die Quere kamen, würden die beiden alten Tibeter nicht überleben.
    Plötzlich blickte Shan auf und sah sich nach den Gesichtern von Jowa und Fat Mao um. »Micah«, stieß er in jäher Erkenntnis hervor. »Der Amerikaner.« Die Jungen wurden immer noch verfolgt, und die dropka hatte gesagt, Micah könne sich beim Lamafeld mit Khitai getroffen haben. Xu persönlich hatte die Anwesenheit eines zweiten Clans bestätigt. Der Jadekorb war an Micah weitergegeben worden. Bao und die Einsatzkommandos suchten nach den Amerikanern. Ein anderer Mörder, den Rongqi nach dem Jadekorb ausgesandt hatte, durchstreifte ebenfalls die Berge. Die Pfade der Täter näherten sich immer mehr an. Und der amerikanische Junge war ihr Ziel.

Kapitel 17
    Fat Mao und Shan hatten im trüben Halbdunkel der sich ankündigenden Dämmerung bereits eine Stunde zu Fuß zurückgelegt, als der Uigure warnend die Hand hob. Er stieß Shan in Richtung eines Geröllblocks und kauerte sich hinter einem anderen Felsen zusammen. Sie wurden von einer einzelnen Gestalt verfolgt. Es war Jowa, der im Laufschritt den Pfad hinaufkam und dabei offenbar nach etwas oder jemandem in der Ferne Ausschau hielt. Er lief an ihnen vorbei, und Fat Mao stand auf. Einen Augenblick später verringerte Jowa das Tempo. Seine Hand zuckte zum Gürtel, aber sein Dolch war weg.
    »Ich dachte, du wolltest in Tibet bleiben«, rief der Uigure ihm hinterher. »Es ist doch angeblich zu gefährlich für purbas .«
    Jowa blieb stehen und fuhr herum. »Dieser Fall ist anders, habe ich ihnen erklärt«, sagte er keuchend und sah dabei Shan an. »Ich muß die Lamas finden.«
    Shan fragte ihn nicht, weshalb er kein Messer mehr trug. Dieser Fall ist anders, hatte er gesagt. Wollte er damit irgendwie zum Ausdruck bringen, daß sie nun auch einen anderen Jowa vor sich hatten?
    Fat Mao nickte, sah auf die Uhr und schritt an Jowa vorbei, um sie weiter den

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