Das Auge von Tibet
folgten dann einem Korridor, der anscheinend in entgegengesetzter Richtung verlief. Jowas Gesicht war zu einer grimmigen Maske der Entschlossenheit erstarrt. Dann, als Shan stehenbleiben und eine Erklärung verlangen wollte, traten sie durch eine schwere, mit Rost übersäte Metalltür. Am Rahmen hingen alte, längst ausgetrocknete und rissige Gummidichtungen. Sie gelangten in einen runden, sechs Meter durchmessenden Raum, den Jowa zügig durchquerte, als wolle er ihn so schnell wie möglich wieder verlassen.
Im Innern der Kammer umgab ein rundes Eisengeländer ein drei Meter breites tiefschwarzes Loch. Shan trat zögernd einen Schritt vor und legte eine Hand auf das Metall. Sein Magen zog sich zusammen, und er erkannte, an was für einem Ort er sich befand. Das hier war nicht bloß ein Loch. Es war ein mit Beton ausgekleidetes Silo.
»Wie ist das nur möglich?« stieß er keuchend hervor, umklammerte mit beiden Händen das rostige Rohr und starrte in die Dunkelheit hinab.
»Dies war die erste Generation der Raketenbasen«, sagte Jowa leise. »Heutzutage sind die Raketen viel größer und haben mehrere Sprengköpfe. Die Basen sind riesig, so wie in der Pilzschüssel. Aber vor dreißig Jahren hat man noch kleinere Anlagen gebaut, so nah wie möglich an der indischen Grenze, mit jeweils einem halben Dutzend Silos und wenig Personal. Die Silos in den größeren Tälern wurden für die neuen Systeme ausgebaut. Andere, zum Beispiel diese hier, wurden aufgegeben. Man hat die Schächte versiegelt und die Eingänge gesprengt, um sie durch Schutt zu verschließen Einer der Hirten hat alles beobachtet. Er hat in einem der Tunnel die Zündschnur der Sprengladung durchgeschnitten, um hier im Winter seine Schafe unterbringen zu können. Aber einige Zeit später haben die Chinesen ihn gezwungen, seine Herde einem Kollektiv zu übergeben.«
»Also hat er alles den purbas erzählt.«
»Er wurde selbst ein purba . Nicht wegen der Schafe, sondern weil man seinen Bruder wegen eines Mehlvergehens angeklagt und ins Gefängnis gesteckt hatte. An irgendeinem sechsten Juli vor vielen Jahren.«
Shan verzog das Gesicht. Jahrhundertelang hatte es zu den traditionellen tibetischen Bräuchen gehört, als Ausdruck der Freude geröstetes Gerstenmehl in die Luft zu werfen. Doch der sechste Juli, der Geburtstag des Dalai Lama, war als Festtag verboten worden. Wer dennoch beim Feiern mit Mehl erwischt wurde, mußte mit einer Anklage rechnen. Manchmal genügte es schon, wenn man an jenem Tag einen Sack Mehl durch die Gegend geschleppt hatte.
»Aber all die Leute«, sagte Shan. »Dieser Ort wird nicht nur von den purbas genutzt.«
Jowa öffnete eine weitere schwere Tür und winkte Shan hindurch. »Ich war einer derjenigen, die ihn vor einigen Jahren freigegeben haben. Er gehört zu den wenigen sicheren Orten, die uns in dieser Region bleiben. Er wurde zu einer Art Zufluchtsstätte für Menschen auf der Durchreise. Sie kommen normalerweise bei Nacht und in Begleitung eines purba -Führers. Nur wenige wissen genau, wo sie sich befinden. Die meisten bleiben bloß ein paar Tage und ziehen dann weiter.«
»Auf der Durchreise?« fragte Shan, während sie dem Verlauf eines weiteren Korridors folgten.
»Manchmal müssen Leute schnell verschwinden und die Berge überqueren, bevor man sie verhaftet«, erklärte Jowa. »Und mitunter können sie ihre Familien nicht mitnehmen. Aber die Öffentliche Sicherheit kennt die Familien, also müssen sie geschützt werden.« Die Öffentliche Sicherheit würde die Familien benutzen, meinte Jowa. Man würde sie entweder als Geiseln nehmen, um den Flüchtling zur Umkehr zu zwingen, oder sie schlichtweg stellvertretend bestrafen.
»Demnach warten all diese Leute darauf, die Grenze zu überqueren?«
»Manche ja. Andere kommen einfach her, um zu helfen. Wieder andere wollen sich hier ausruhen oder Verletzungen auskurieren, mit denen sie nicht in einem chinesischen Krankenhaus aufkreuzen dürfen. Und einige schätzen die Ruhe hier, weil man so besser Pläne schmieden kann.«
Als sie an einer weiteren Gruppe liegender Gestalten vorbeikamen, setzte eine Frau sich auf und sprach Jowa an. »Danke, nochmals danke«, sagte sie leise und schüchtern und warf dann Shan einen zögernden Blick zu, als würde sie ihn erkennen. Er bemerkte ihr bandagiertes Handgelenk und begriff, wer sie war.
»Sie waren noch immer sehr verängstigt, als unsere Leute sie fanden«, erklärte Jowa. »Sie saßen einfach am Grab des Jungen und
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