Das Auge von Tibet
für den Morgen geplanten Abreise entsprechende Anordnungen zu erteilen. Manche Orte standen unter ständiger Beobachtung der lung ma. Das Lager Volksruhm. Die Kasernen der Kriecher. Und die Krankenhäuser.
»Auf welche Weise werden Sie von hier zurückreisen?« fragte Shan.
Der khampa beantwortete die Frage. In der Nähe dieses Refugiums durfte nirgendwo ein Fahrzeug abgestellt werden. Nach zwei Stunden Fußmarsch gelangte man jedoch an eine Straße, wenigstens nach landläufigen Begriffen, die letztlich zu der Straße über den Kerriya-Paß führte. Irgendwann zwischen sechs und sieben Uhr morgens würde ein Lastwagen vorbeikommen, auf dessen Ladefläche sechs Holzfässer und drei Schafe standen. Das Fahrzeug würde anhalten, falls an einer bestimmten Stelle am Wegesrand drei Felsen in einer Reihe lagen.
»Ich werde auch mitkommen«, sagte Shan.
Der khampa nickte stumm. Dann klopfte es an der Tür, und ein Mann und eine Frau in den Schaffellwesten der Nomaden brachten auf einem provisorischen Tablett Essen herbei. Eine große Schale tsampa und eingelegtes Gemüse.
Shan aß hastig und legte sich auf eine der Pritschen, die an der Wand standen. Irgendwann setzte er sich auf und hielt nach Fat Mao Ausschau, aber der Uigure war verschwunden. Eine Tür in der Rückwand des Raumes stand ein kleines Stück offen. Shan ging hin und wollte das Nachbarzimmer betreten.
»Nein!« rief Fat Mao, als er Shan sah, und hob die Hände, als wolle er ihn zurückstoßen. Shan machte sofort wieder kehrt. Der Uigure folgte ihm und schloß die Tür hinter sich.
»Eines noch«, sagte Shan. »Das silberne Zaumzeug von Nikki. Jemand hat es einem Mao gegeben, damit dieser es Jakli und Marco bringen würde. Können Sie herausfinden, wer dieser Jemand war?«
Fat Mao zuckte die Achseln, als sei ihm die Bedeutung des Ganzen rätselhaft. Dann nickte er und wandte sich wieder den Landkarten zu.
Shan legte sich zurück auf die Pritsche und schloß die Augen, aber er schlief zunächst nicht ein, weil er noch einmal durchging, welcher Anblick sich ihm in dem Nachbarraum geboten hatte. Vier Gestalten auf einer langen Bank. Vor ihnen eine große Kreidetafel mit übersetzten Begriffen und Schriftzeichen. Zwei der Leute, ein Mann und eine Frau, brachten Holzplatten mit einem Schnitzmesser in Keilform. Die anderen beiden beschrifteten die Stücke dann mit schwarzer Tinte. Shan hatte unabsichtlich zumindest eine der Möglichkeiten entdeckt, wie die purbas und Maos mit ihren Netzwerken in Kontakt traten, nämlich mittels der alten Kharoshthi-Schrift auf nachgeahmten Holztafeln. Genial, dachte er. Die Kriecher waren nicht in der Lage, die ausgestorbene Sprache zu übersetzen, und da sie die Holztafeln inbrünstig haßten, würden sie eventuell aufgefundene Exemplare einfach zerstören.
Schließlich schlief er doch noch ein, aber dann stieß der junge purba einen Schrei aus. Shan schreckte hoch und eilte sofort zu dem Tibeter, während dieser laut vorzulesen begann. »Im ersten Eintrag steht noch Oberst Rongqi, aber das war vor fünfundzwanzig Jahren.« Der purba las erst zügig, dann etwas langsamer vor und legte immer häufiger Pausen ein, um die Worte wirken zu lassen. Rongqi hatte drei Dienstzeiten in Tibet abgeleistet, die letzten beiden auf ausdrücklichen eigenen Wunsch, der - so eine in Tibet flüchtig gesichtete Akte - in seinem außerordentlichen Patriotismus begründet lag und vielleicht auch in der Tatsache, daß sein Vater im Jahre 1961 von khampa -Guerillas getötet worden war. In der Volksbefreiungsarmee genossen vor allem seine effizienten Unterwerfungstechniken einen ausgezeichneten Ruf, so daß er zu diesem Thema sogar als Sonderdozent an eine der Schulungsakademien der Armee berufen worden war. Während seiner ersten Dienstzeit war er dafür berüchtigt gewesen, Mönche und Nonnen zum öffentlichen Geschlechtsverkehr zu zwingen, meistens in den Höfen ihrer eigenen Klöster, bevor diese von seinen Sprengstoffexperten dem Erdboden gleichgemacht wurden. Indem er die Menschen zum Bruch des Zölibats nötigte, vertrieb er sie gleichzeitig aus den Reihen der Geistlichkeit. Auf seinen Befehl hatte man in Zentraltibet, nördlich von Lhasa, sechsunddreißig Klöster geplündert und zerstört, für gewöhnlich unter seiner persönlichen Aufsicht. Zeugen hatten Teile zweier riesiger Bronzebuddhas aus einem der Klöster in einer Gießerei in Tientsin bei Peking wiederentdeckt. Während der Säuberungsaktionen waren sechshundertsechsundneunzig
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