Das Auge von Tibet
Pfad entlangzuführen. Er ging schneller und schneller. Als dann die Sonne ihre ersten Strahlen über die Berge schickte, verfiel er in einen gemäßigten Trab. Die Männer eilten nun über eine freie, von kaltem Wind gepeitschte Ebene zurück auf das Kunlun-Gebirge zu. Bis zum Treffen mit dem Lastwagen blieb noch genug Zeit. Aber es wurden Kinder ermordet, der Geist des jungen zehnten Yakde wanderte verloren umher, und Gendun und Lokesh waren verschwunden. Wenngleich ihnen im Augenblick nichts anderes zu tun blieb, so konnten sie sich immerhin beeilen.
Sie zogen voran, drei kleine Männer auf der unermeßlich weiten Changtang. Um sie herum ließ der Wind das Gras wogen, und die schneebedeckten Gipfel schimmerten hell im Licht des Tagesanbruchs. Als sie die Kuppe eines flachen Hügels erklommen, überraschten sie eine Herde Antilopen, die sofort über die langgestreckte Ebene floh. Nur ein Tier blieb zurück, ein kleines Exemplar mit einem abgebrochenen Horn. Es starrte sie an, als wurde es sie wiedererkennen, und dann lief es ganz allein neben ihnen her, bis sie die Straße erreichten.
Jowa und Shan ließen sich an der Straße nach Yutian absetzen. Nach einer weiteren Stunde Fußmarsch kam Laus Hütte in Sicht. Bereits letzte Nacht hatte Shan beschlossen, noch einmal die Kammer des Wasserhüters aufzusuchen.
Aber als sie sich der Lichtung näherten, hielt Jowa ihn zurück. Irgend etwas war anders. Sie hörten Stimmen. Ein Hund bellte, und sie sahen, daß ein großer tibetischer Mastiff auf sie zulief. Shan spürte, wie Jowa sich für einen Angriff wappnete, aber dann gebot er dem purba mit ausgestrecktem Arm Einhalt und deutete auf eine Gestalt, die mit einem Topf Wasser vom Bach heraufkam. Jakli.
Sie betraten die Lichtung. Jemand rief etwas, und der Hund blieb stehen. Shan wandte sich um und erblickte Akzu und hinter ihm zwei Jurten. Der Clan des Roten Steins hatte einen neuen Lagerplatz aufgesucht.
Zwischen den Zelten stand Malik neben einigen angeleinten Pferden. Bei ihm waren zwei Jungen, die Shan noch nicht von seinem ersten Besuch her kannte. Er sah sich etwas genauer um. Über dem Feuer hing ein Kessel mit Hammeleintopf, um den sich Akzus Frau sowie ein weiterer Junge kümmerten, der Shan mit einem fröhlichen Ruf begrüßte. Es war Batu.
»Sie sind wieder nach unten gekommen«, erklärte der Junge, noch während er auf sie zurannte. »Zuerst sind sie geflohen, aber dann sind sie wieder nach unten gekommen.«
»Ich verstehe nicht ganz«, sagte Shan und ließ den Blick über die Lichtung schweifen. Einschließlich Batu zählte er sechs Jungen im nahezu gleichen Alter.
»Sie hatten alle den Gedanken, daß nur einer uns jetzt wirklich beschützen kann, und zwar Tante Lau. Wir mußten herkommen.«
Die zheli war zu Lau zurückgekehrt. Sechs der acht überlebenden Jungen befanden sich hier im Lager.
Shan registrierte eine Bewegung auf dem Baum neben der Hütte. Er hob den Kopf und erkannte einen von Akzus Söhnen, der mit einem Fernglas auf einem der Äste saß und Wache hielt. Eine der Hände des Mannes war dick bandagiert.
»Wir gehen nicht von hier weg«, verkündete Batu. »Nicht bevor ihr Mörder gefaßt wurde und wir wissen, daß Tante Lau ihren Frieden gefunden hat.«
Jakli trat an Shans Seite. »Es ist zu gefährlich, ich weiß«, sagte sie mit besorgtem Stirnrunzeln. »Ich habe zwei von ihnen getroffen, die bereits hierhin unterwegs waren. Ich sagte ihnen, sie sollten sich aus den Tälern fernhalten. Aber dann traf Akzu mit den anderen Jungen ein. Er sagte, der Rote Stein habe eine Verpflichtung, weil er Khitais Tod nicht verhindern konnte. Und Marco willigte ein, ebenfalls hierzubleiben.« Sie zog Shan ein Stück beiseite. »Die Jungen haben mir noch etwas erzählt«, flüsterte sie. »Lau war am Tag ihres Todes hier. Mit zwei Jungen und einem der Mädchen. Sie sind geritten. Dann hat sie die Kinder angewiesen, sich allein zu beschäftigen, wie an einem der Verehrungstage.«
»Jemand könnte kommen«, drängte Jowa. »Sie haben Hubschrauber.«
Shan folgte seinem Blick zu dem Mann auf dem Baum. Er sah erneut die bandagierte Hand und mußte auf einmal an Xus Geschichte über den gestohlenen und ausgebrannten Lastwagen der Brigade denken. Fast hätte er die erste Begegnung mit Akzu und Fat Mao vergessen, als die beiden nur daran interessiert gewesen waren, von Jowa zu erfahren, wie man die Patrouillen der Öffentlichen Sicherheit überlisten konnte. Vielleicht wollte der Clan des Roten Steins
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