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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Deckung im Gebirge überrascht werden könnten.
    »Es tut mir leid, Nichte«, sagte Akzu und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Ich weiß, daß wir bei Laus Bestattung gesagt haben, wir würden ihr helfen, aber seither ist vieles anders geworden. Der Clan des Roten Steins wurde hintergangen.«
    Die Worte rissen Jakli aus ihrer Erstarrung. »Hintergangen?« fragte sie, und die Sorge auf ihrem Antlitz nahm noch zu.
    »Es war dieses Schwein namens Bajys. Er hat unsere Gastfreundschaft ausgenutzt und uns belogen. Den Jungen in seiner Begleitung hat er ermordet, und dann ist er zu den Chinesen gerannt.« Akzu warf Fat Mao einen bedeutungsvollen Blick zu. »Bestimmt wird er plaudern wie ein Wasserfall, um sich ihren Schutz zu erkaufen.«
    »Ein Junge ist tot?« fragte Shan. Niemand schien ihn zu hören.
    Jakli ließ sich auf einen nahen Felsen sinken. Ihr Gesicht verlor sämtliche Farbe.
    »Das Opfer war keiner von uns«, sagte Akzu zu ihr, »sondern eines von Laus Kindern. Ein guter Junge. Er hieß Khitai, und er war erst neun Jahre alt. Die Pferde mochten ihn. Bajys hat ihn in den Kopf geschossen.«
    Neben Shan schnappte jemand wie unter großen Schmerzen nach Luft. Lokesh hielt sich den Bauch, als hätte man ihm einen Tritt verpaßt. »Khitai?« fragte er. Er hielt sich an Shans Schulter fest, als würde ihm schwindlig. »Khitai war bei euch?«
    Jakli und Akzu sahen erst Jowa, dann Shan fragend an. Das erste Opfer hatte bei Akzus Clan gelebt. Schon als der Nomade von diesem Mord berichtete, hatte Lokesh nach dem Namen des Jungen gefragt, und als er ihn nun durch Akzu erfuhr, schien er ihn wiederzuerkennen. Als sei Lokesh in erster Linie wegen Khitai mitgekommen.
    »Er war ein kasachischer Junge«, sagte Akzu und musterte Lokesh verwirrt.
    Der alte Tibeter schien ihn gar nicht zu hören. Er gab ein leises Stöhnen von sich und versank in Gedanken.
    Jakli wandte sich an Shan. »Ich werde euch zu Lau bringen«, bekräftigte sie. »Akzu wird euren Freund Jowa ins Lager des Roten Steins mitnehmen.«
    Shan drehte sich zu Lokesh um. Der Alte kniete inzwischen auf einem Felsen, sah in Richtung der schneebedeckten Gipfel und ließ den Blick über den Horizont wandern. Aus irgendeinem Grund wußte Shan, daß Lokesh nach Gendun suchte, daß er den Lama plötzlich dringend brauchte. Es hat bereits angefangen, hatte Gendun gesagt. Er mußte die Morde an den Kindern gemeint haben, als habe er damit gerechnet. Vielleicht hatte er auch darauf gehofft, Shan könne durch die Aufklärung von Tante Laus Tod Schlimmeres verhindern.
    Während er sich seinem alten Freund näherte, sah Shan, daß Lokesh die Finger aneinandergelegt hatte, und glaubte im ersten Moment, es handle sich um ein mudra . Doch als er neben Lokesh niederkniete, erkannte er seinen Irrtum. Der Tibeter rang in stummem Schmerz die Hände. Shan konnte den Grund dafür nicht verstehen. Er legte dem Alten einen Arm um die Schultern und sprach ein paar tröstende Worte. Lokesh schien ihn gar nicht zu bemerken.
    »Dieser Junge«, sagte Shan und wandte sich wieder an Jakli. »Hat er zur zheli gehört?«
    Erstaunt erwiderte sie seinen Blick. »Ja. Er war eines der Waisenkinder aus der Schule in Yutian und hat an Laus Unterricht teilgenommen. Diese Kinder sind keine gewöhnlichen Waisen. Sie stehen nicht nur ohne Familie da, auch ihr Clan existiert nicht mehr. Aber die zheli ist kein offizieller Teil der Schule. Eher so eine Art Ersatzclan anstelle der verlorenen Bindungen.«
    »Hast du diesen Jungen gekannt?« fragte Shan seinen alten Freund. »Hat Gendun diesen Jungen gekannt?«
    Langsam schüttelte Lokesh den Kopf, ohne seine Augen von den Bergen abzuwenden. Seine Miene zeugte von großer Verzweiflung.
    Jakli betrachtete sie beide und wirkte immer verwirrter.
    »Khitai«, rief Lokesh plötzlich mit mutloser Stimme, aber diesmal war es nicht nur ein Ausdruck der Qual. Es schien, als würde er den toten Jungen rufen wollen, so wie ein besorgter Vater nach seinem vermißten Kind rief.
    »Warum ein Kind?« fragte Shan beinahe flehentlich. »Kinder sind doch nur.« Seine Stimme versagte ihm den Dienst.
    Als er Jakli ansah, wurde ihm ihre zunehmende Wut bewußt. »Die Kinder sind alles, was noch übrig ist«, sagte sie, und Shan begriff, was gemeint war: Pein und Verfolgung hatten die Clans vernichtet, bis auf diese letzten überlebenden Kinder.
    »Ich habe nie an Dämonen geglaubt«, meldete sich hinter ihm zaghaft Akzu zu Wort. Sein Blick war auf Lokesh gerichtet, und sein

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