Das Auge von Tibet
»Ihr seid früher Priester gewesen.«
»Eine Zeitlang«, sagte Lokesh und schenkte ihr ein breites Lächeln.
»Erzählt es ihm. Wie viele Jahre habt Ihr im Gefängnis verbracht?«
»Fünfunddreißig«, sagte der alte Tibeter weiterhin lächelnd.
Jakli umschloß seine Hand und sah ihn an. Lokesh erwiderte den Blick erstaunt. Dann wandte sie sich wieder dem Uiguren zu. »Sie werden nicht weich«, sagte sie mit unverminderter Entschlossenheit. »Sie werden weise. Ihr Blick wird geschärft. Und da unsere Priester alle verschwunden sind, müssen wir uns eben anderweitig der Weisheit versichern.«
»Ich weiß genau, was vor sich geht«, lautete die mürrische Antwort.
»Nein. Du bist blind.« Sie drehte sich zu Shan um. »Dieser Mann wird Fat Mao genannt«, sagte sie und wies auf den dürren Uiguren. »Er glaubt, jeder Chinese sei sein Feind. Doch in Wirklichkeit sind Mörder, Tyrannen und Lügner unsere Feinde, wie auch immer sie aussehen mögen.« Die kalte Wut in ihrer Stimme überraschte Shan. Nicht so Fat Mao. Er zuckte zusammen, als fürchte er den Sturm, den er heraufbeschworen hatte. Ein kurzer Ruck am Zügel ließ sein Pferd ein Stück zurückweichen.
»Shan hat ganz besondere Fähigkeiten«, verkündete Lokesh. »Er sieht die Wahrheit, wo andere nichts erkennen.«
»Na großartig«, warf der Uigure ein, hielt sich jedoch sorgfältig von Jakli fern. »Es sterben Menschen. Die Clans werden zerschlagen, und ihr bringt uns einen Hellseher.«
»Er hat sich der Wahrheit bedient, um diesen Mann aus dem Gefängnis zu befreien«, sagte Jowa und deutete auf Lokesh. »Und als letzten Frühling ein Mönch wegen Mordes hingerichtet werden sollte, hat Shan die Wahrheit herausgefunden. Durch seine Ermittlungen wurden der Mönch freigelassen und die wirklichen Mörder bestraft.«
»Du meinst, es wurden statt dessen andere Tibeter hingerichtet.«
»Nein. Die Schuldigen waren chinesische Beamten und Soldaten.«
Fat Mao starrte erst Jowa und dann Shan an, als sei er nicht sicher, ob diesen Worten zu trauen war.
»Und dennoch«, ertönte eine Stimme hinter ihnen. Sie gehörte dem alten Kasachen namens Akzu. Er trat an die Seite des berittenen Uiguren. »In deiner Stimme schwingt keinerlei Freundlichkeit für diesen Mann mit«, sagte er zu Jowa.
Der Widerstandskämpfer sah zu Boden. »Die Chinesen haben meine Familie ausgelöscht und meinen Lama getötet«, sagte er schroff. Shan hörte ihn zum erstenmal von seinem Leid berichten. »Aber ich kenne die Lamas, die darum gebeten haben, er möge herkommen. Für sie würde ich sogar den Vorsitzenden der Kommunistischen Partei begleiten.«
Der alte Kasache seufzte vernehmlich. »Aber wir können euch nicht zu Lau bringen. Das ist jetzt unwichtig. Lau wird uns vergeben.«
»Ich werde sie hinbringen, Akzu«, sagte Jakli. »Das habe ich versprochen.«
»Ich weiß, was du versprochen hast, Nichte, aber in der Zwischenzeit hat sich manches geändert. Wir brauchen diesen Mann«, sagte Akzu und deutete in Richtung Jowa.
»Ich will damit sagen, ich habe es Tante Lau versprochen«, erklärte Jakli. »Ich habe es nach ihrem Tod geschworen.«
Akzu verzog das Gesicht. Er strich dem Pferd über die Nüstern und sah Jakli bekümmert an.
Noch bevor er etwas sagen konnte, stieß der Uigure einen lauten Schrei aus. »Soldaten! «
Im nächsten Moment hörte auch Shan, weshalb der Mann aufgeschreckt war. In einiger Entfernung war ein tiefes schnelles Rattern zu vernehmen, das rasch lauter wurde. Akzu rannte zu den Kamelen, packte ihre Zügel und drängte sie zurück in den Schatten bei den Felsen. Jowa und der Uigure taten das gleiche mit den Pferden. Jakli nahm Lokeshs Hand und zog ihn hastig zwischen zwei große Felsblöcke. Als Shan sich zu ihnen gesellte, erhaschte er einen flüchtigen Blick auf die Maschine, die sich näherte, einen der grauen Helikopter der Volksbefreiungsarmee. Der Hubschrauber folgte dem Verlauf der Bergflanken und überflog die Senke in weniger als zweihundert Metern Höhe. Shan und die anderen preßten sich dicht an die Felsen.
Nachdem die Maschine verschwunden war, sprach eine Weile niemand ein Wort. »Diese Mistkerle«, sagte Fat Mao schließlich und schaute zu Akzu. »Wir müssen auf dem schnellsten Weg zurück.«
Shan sah, daß Jakli regungslos stehenblieb und in Richtung des Horizonts starrte. Der Blick ihrer grünen Augen verriet Furcht, doch Shan spürte, daß sie nicht etwa Angst um sich selbst hatte, sondern sich vielmehr um andere sorgte, die ohne
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