Das Auge von Tibet
trauriger, wissender Gesichtsausdruck schien zu besagen, daß er den alten Tibeter nur zu gut verstand. »Mein Großvater hat immer erzählt, die Dämonen schliefen in der Erde und würden manchmal mit hemmungslosem Blutdurst erwachen. Dann bräche ihre Zeit an, eine Zeit der Zerstörung, wie es andererseits Zeiten der Blüte oder Schöpfung gibt. Niemand könne sie aufhalten, so wie auch niemand der aufgehenden Sonne Einhalt gebieten kann. Man müsse diese Phase in stillem Leid ertragen und warten, bis die Dämonen ihren Appetit gestillt hätten. Ich sagte ihm, ich würde nicht an so etwas glauben. Für mich seien Dämonen lediglich Mythen aus alten Tagen.
Aber als mein Großvater sich dann weigerte, seine Tiere von den Weiden zu treiben, die unser Clan seit fünfhundert Jahren nutzte, und chinesische Bauern auf sein Land zu lassen, damit diese den Boden mit ihren Maschinen umpflügen konnten, wurde ich eines Besseren belehrt. Ein Dämon kam und warf Granaten in sein Zelt, während er und meine Großmutter schliefen. Dann hat der Dämon mit einem Maschinengewehr die gesamte Herde niedergemäht, sogar die Lämmer.« Shan wandte den Kopf und sah, daß Jowa und Fat Mao mittlerweile dicht neben ihnen standen und mit zornigen Mienen der Erzählung lauschten. »Ich habe die Leichen gefunden, als ich ins Tal ritt, um gemeinsam mit meinem Großvater Lieder zu singen. Der Boden war mit Blut getränkt. Und seit jenem Tag glaube ich an Dämonen«, sagte Akzu dermaßen ruhig und sachlich, daß Shan ein kalter Schauder über den Rücken lief. »Der Dämon ist entfesselt und hat es auf die Waisen abgesehen. Ich glaube, er will zu Ende bringen, was er mit den Eltern der Kinder begonnen hat. Dreiundzwanzig Waisen hatte Lau«, verkündete Akzu unheilschwanger und blickte zum nördlichen Horizont. »Wer weiß, wie viele es am Ende noch sein werden?«
Der alte Kasache meinte nicht nur den Verräter Bajys, denn ein Mann wie Akzu wußte, daß es nie bloß um eine einzelne Person ging. Die Dämonen des modernen China waren die irrationalen, unberechenbaren politischen Fieberanfälle, die bei ihrem plötzlichen Auftreten manche mit Haß infizierten und anderen eine solche Furcht einflößten, daß ihnen Verrat und Mord als einzige Auswege erschienen. Vielleicht war Shan ursprünglich geschickt worden, um den Dämon aufzuspüren, der Lau getötet hatte, doch derselbe Dämon machte sich inzwischen womöglich über die Kinder her. Shan legte Lokesh eine Hand auf die Schulter und sah erst Jowa, dann Akzu an. »Wir müssen euch in dieses Lager begleiten«, teilte er dem alten Kasachen mit. »Wir müssen uns an den Ort begeben, an dem Khitai gestorben ist.«
Akzu starrte Shan durchdringend an und wandte sich dann an Jakli. »Es kann durchaus sein, daß der Dämon alle diese Kinder töten will. Ich werde nicht zulassen, daß unser Clan sich deswegen in Gefahr begibt«, sagte er mit entschlossenem Blick und drehte sich wieder zu Shan um. »Und falls du ihm in die Quere kommst, wird er dich ebenfalls töten.«
Kapitel 3
Es tröstete Shan, daß auf der Erde noch Gegenden wie jene existierten, die sie soeben durchritten, Orte, die man niemals würde urbar machen können. Manche behaupteten, solche Regionen seien gut für den Planeten, andere waren eher von der vorteilhaften Wirkung auf das Seelenheil der Menschen überzeugt. Shan hingegen hatte einst einen alten Priester einer winzigen, nahezu ausgestorbenen tibetischen Sekte getroffen, für den solche Unterscheidungen irreführend waren. Nachdrücklich betonte der Priester, eine Seele könne nur in freier, uneingeschränkter Umgebung gedeihen. Wenn man die Gottheiten des Landes in Ketten lege, würden die Seelen der Menschen grau und leer. Der Lama hatte zwar sein ganzes Leben im Hochgebirge zugebracht, kannte jedoch trotzdem die chinesischen Asphaltstraßen, die für ihn, so beteuerte er selbstsicher, nichts anderes als unwissentlich angelegte Fesseln auf der Oberfläche des gesamten Planeten waren. Sobald sich mit dem letzten Stück Asphalt die letzte Straßenverbindung quer über die Kontinente schloß, sei das Ende der Welt gekommen.
Sie ritten drei Stunden im Schatten der Felswände voran, galoppierten über einige niedrige Pässe, die ungeschützt im hellen Sonnenlicht lagen, und hielten sich am Rand einer breiten Senke, auf deren offenen Weideflächen ein Reiter keinerlei Deckung gehabt hätte.
Unterwegs erkundigte Shan sich bei Jakli nach Tante Lau. Sie war ihre Lehrerin, erfuhr er,
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