Das Auge von Tibet
länger ertragen. »Es tut mir leid«, sagte er unwillkürlich.
Jakli erwiderte seinen Blick mit einem kleinen weisen Lächeln. »Das ist unser Skorpionnest.«
Tibet und der westliche Teil Chinas sollten als Puffer fungieren, als Schutzzone gegen zukünftige Bedrohungen, hatte ein hoher General einst im Beisein von Shan anläßlich eines Banketts in Peking geäußert. Das hieß vor allem, daß die ausgedehnte Wildnis als Versteck für die wichtigsten Waffen des Landes diente. Viele Politiker in der Hauptstadt prahlten damit, daß Tibet aus Peking regelmäßig Milliardensummen erhielt. Nur ein Bruchteil dieses Betrags wurde nicht für die Aushöhlung von Bergen ausgegeben, in denen man dann Truppen stationierte und geheime Abschußanlagen für Nuklearraketen errichtete, wie jene, die Shan soeben gesehen hatte. Die Pilzschüssel. Benannt nach den weißen Kuppeln, die im Anschluß an Pekings Überfall aus dem Boden zu sprießen begannen, und vielleicht auch nach dem Erscheinungsbild der bösen Geister, die in den Sprengköpfen der Raketen wohnten.
Also hatten sie die Wildnis doch gezähmt, dachte Shan. Womöglich hatte der alte Priester ja recht. Wenn ein heiliges Land auf solche Weise in Ketten gelegt wird, könnte dies das Ende von allem bedeuten. Aus irgendeinem Grund mußte Shan an das leise Grollen denken, das in ihrer Einsiedelei in Lhadrung allgegenwärtig war, das Geräusch der riesigen Gebetsmühle, für deren Betrieb rund um die Uhr zwei Mönche sorgten, in einer kleinen Kammer in der Wand eines namenlosen Berges im fernen Tibet. Die geheime unterirdische Maßnahme der Lamas zum Schutz der Welt.
Nun verstand er, weshalb die Weiden komplett entvölkert waren. Stützpunkte wie dieser lagen stets inmitten militärischer Sperrgebiete, in denen man ständig mit Patrouillen der Armee rechnen mußte. Zu Zeiten der chinesischen Kaiser hatte man viele Orte allein für die Herrscherfamilie und einige hohe Beamte reserviert. Normalen Bürgern war das Betreten und manchmal sogar das simple Betrachten bei Todesstrafe untersagt. China hatte noch immer seine Verbotenen Städte. Wer als Zivilist in einer solchen Zone ertappt wurde, konnte nicht auf Gnade hoffen.
Als Shan sich zum Gehen wandte, entdeckte er auf dem Hang neben der Spalte einen großen, rot bemalten Felsen. Ein weiterer dieser Felsen lag auf dem Abhang am Ende der Senke. Auf diese traditionelle Weise wurden die Heimstätten der jeweiligen Schutzgötter des Landes markiert, die in den Bergen wohnten. Einige Tibeter hatten das große Wagnis auf sich genommen, diese Felsen anzumalen, als würden sie den Stützpunkt mit wachsamen Gottheiten eingrenzen wollen.
»Eine solche Gefahr«, sagte Shan zu Jakli, »nur um Zeit zu gewinnen.« Er sprach kaum lauter als ein Flüstern, als reiche der bedrohliche Schatten der Pilzschüssel weit über das Tal hinaus.
»Sie haben Akzu doch gehört«, stellte Jakli sachlich fest. »Wir werden so viele Abkürzungen wie nötig nehmen, bis der Verrat aufhört.« Sie blickte zurück in die Senke. »Die Patrouillen sind faul. Zu dieser Jahreszeit interessieren sie sich in erster Linie für Tiere.«
»Tiere?«
»Ohne die Hirten ist die Gegend hier wie ein riesiges Wildgehege. Generäle reisen aus Peking an, um Steinböcke und Antilopen zu schießen. Hin und wieder sogar Schneeleoparden.«
»Trotzdem, falls man euch entdeckt.«
»...werden wir das Jagdwild«, beendete sie den Satz mit gekünsteltem Lächeln und umfaßte mit ausgestreckten Fingern ihren Hals, um eine Jagdtrophäe an der Wand nachzuahmen. »Und hängen dann im Teezimmer irgendeines Generals in Peking. Seltene Konterrevolutionäre, in freier Wildbahn zur Strecke gebracht.«
Shan sah sie an und versuchte zu ergründen, wie sie in das komplizierte Gefüge der von Akzu geleiteten Gruppe paßte. »Akzu ist Ihr Onkel«, sagte er. »Aber Sie leben nicht bei Ihrem Clan.«
»Zur Zeit wohne ich in der Stadt. In Yutian. Man hat mir eine Stelle in der Fabrik gegeben. Ich mache Hüte.«
Er fragte sie nach dem Clan und nach Akzu. Die Frage schien Jakli zu bekümmern. Nach kurzem Zögern erklärte sie ihm, daß der zähe alte Kasache ihr Oberhaupt war, der Älteste unter den letzten Mitgliedern des Clans des Roten Steins. Früher hatte der Rote Stein viel Einfluß und ausgedehnte Weidegründe im Norden besessen. Doch die Regierung hatte den Clan kurzerhand enteignet und die Menschen aus ihrer angestammten Heimat vertrieben. Vor dreißig Jahren waren Akzu und Jaklis Vater mit
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