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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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und bis vor kurzem auch Angehörige des örtlichen Landwirtschaftsrats, eines Gremiums, das von den einheimischen Anbaubetrieben gewählt wurde und die Gemeindeverwaltung in Fragen von Ackerbau und Viehzucht unterstützte. Lau war ungefähr fünfundfünfzig Jahre alt und selbst eine Waise gewesen. Ohne eigene Familie wurde sie dennoch »allen eine Mutter«, wie Jakli es ausdrückte und dann ihrem Pferd die Sporen gab, als Akzu sich mit tadelndem Stirnrunzeln zu ihr umwandte. Hier, zwischen den Felsen, hallte jedes Geräusch bis weit in die Ferne wider, und Shan war nicht entgangen, wie besorgt der alte Kasache den Blick über das Gelände schweifen ließ.
    Über Akzu und Fat Mao hatte sich grimmiges Schweigen gesenkt. Zuerst dachte Shan, sie seien noch immer wütend über seine Anwesenheit, aber dann erreichten sie eine Weggabelung, an der Akzu auf den weniger benutzten der beiden Pfade einbog, und Shan erkannte, daß die Männer nervös, ja sogar ängstlich waren. Selbst die Pferde schienen nur widerwillig diese Richtung einschlagen zu wollen und mußten mit fester Zügelhand zwischen die beiden Felsen am Anfang des Wegs dirigiert werden. Zuvor hatte Akzu eine kurze Pause eingelegt, um die Glocken vom Geschirr des Kamels abzuschneiden.
    Jakli ritt vor Shan. »Eine Abkürzung«, sagte sie, über die Schulter gewandt. Doch auch sie war nervös, wie er ihren Augen deutlich ansah.
    Vom Schatten einer weiteren Felswand aus betrachtete Shan den ungefähr acht Kilometer langen Talkessel. Die Gegend war nicht so fruchtbar wie die Täler Zentraltibets, aber es gab gleichwohl genug Vegetation und Wasser, um die kleinen Herden der Nomaden zu ernähren. Wenigstens in der Theorie, dachte Shan, denn eigentlich hätte er Schafe, Ziegen oder Yaks und vielleicht sogar die flachen Filzzelte eines Hirtenlagers vor sich sehen müssen. Aber das Gelände war leer, ohne jedes Lebenszeichen.
    Der Pfad stieg in Richtung des Bergrückens an, der das südliche Ende des Tals begrenzte, und auf dem Kamm tauchte zwischen den Felsen eine schmale Spalte auf. Akzu hob den Arm und ließ die Kolonne anhalten. Dann stieg er ab und führte sein Pferd zu der Öffnung. Dicht daneben drückte er sich an die Wand und spähte vorsichtig hindurch. Einen Moment später huschte er, sichtlich erleichtert, an der Spalte vorbei und bedeutete den anderen, ebenfalls abzusteigen und ihm zu folgen. Shan schwang sich unbeholfen aus dem Sattel und schloß sich den Gefährten an, doch auf Höhe der Öffnung blieb er stehen.
    Das Objekt der Angst dominierte die Landschaft jenseits des Bergrückens. Es handelte sich um eine Anlage, die auch aus mehr als drei Kilometern Entfernung noch riesig wirkte. Hinter einem langen hohen Drahtzaun, der in gleichmäßigen Abständen mit Wachtürmen versehen war, erstreckte sich ein Komplex aus niedrigen, leuchtendweißen Gebäuden und Zementbunkern.
    »Als ich noch klein war«, sagte eine leise Stimme hinter Shan, »gab es auf dem Nachbarhügel unseres Sommerlagers ein Skorpionnest. Meine Brüder wollten die Tiere ausräuchern.«
    Shan warf Jakli einen verwirrten Blick zu und schaute dann zurück zu dem Komplex. Er wußte, wie ein chinesisches Gefängnis aussah, doch das hier war kein Gefängnis. Es verfügte zwar über viele Wachtürme, war ansonsten aber zu neu und sauber. In dieser Einrichtung steckte so viel von Pekings Geld, daß es sich keinesfalls um einen gewöhnlichen Bestandteil des Gulags handeln konnte. Andererseits glich es auch keinem der Armeestützpunkte, die er kannte. Alles hier schien aus Zement zu bestehen. Im Innern des Areals ragten in regelmäßiger Folge kleine Gebäude von der Größe eines Geräteschuppens aus dem Boden.
    »Nein, sagte mein Vater«, fuhr Jakli fort. »Laßt sie am Leben. Ich möchte nicht, daß ihr unachtsam das Land durchstreift.«
    Shan hob eine Hand an die Stirn, um seine Augen vor dem hellen Schein der mittlerweile hoch am Himmel stehenden Sonne zu schützen. In der Mitte des Geländes entdeckte er eine große Radarantenne. Dahinter waren grellweiße Kuppeln aufgereiht. Eine Kommunikationsanlage mit Satellitentechnik. Die kleinen Gebäude waren nicht etwa Schuppen, sondern die Eingänge zu einem unterirdischen Komplex.
    »Bei uns heißt dieser Ort die Pilzschüssel. Eines Nachts habe ich einen der Tests beobachtet«, sagte Jakli. »Das Ding stieg hoch in den Himmel empor, wie eine Sternschnuppe, die nach Hause zurückkehren will.«
    Shan fröstelte auf einmal und konnte den Anblick nicht

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