Das Auge von Tibet
Trostwort für die Lämmer. Jengzi hörte auf zu schluchzen. Doch während alle anderen innehielten, kroch Batu langsam voran, um neben Kaju zu gelangen. Shan wollte ihn warnen, daß für zwei Leute nebeneinander nicht genug Platz vorhanden sei, als der Fuß des Jungen gegen einen der uralten Stützpfosten stieß. Es ertönte weder ein knackendes noch ein splitterndes Geräusch, sondern einfach nur ein trockenes Knirschen, und der untere Teil des Pfeilers brach zur Seite weg. Statt weniger Körner floß schlagartig ein stetiger Sandstrom in den Tunnel hinab, erfüllte den Gang mit feinem Staub und sammelte sich alsbald auf dem Boden.
»Schnell!« rief Deacon. Jakli und Jengzi schoben sich hastig voran, gefolgt von Kaju, Batu und Shan. Als Shan durch den Sandschleier kroch, fiel ihm zunächst ein Stein auf den Rücken, dann ein zweiter auf die Beine. Er wandte den Kopf, um nachzuschauen, ob Deacon Hilfe benötigte.
»Schnell!« rief der Amerikaner ein weiteres Mal.
Eilig robbte Shan drei Meter nach vorn und drehte sich um, als im selben Moment rund um den geschwächten Stützpfeiler die gesamte Decke einstürzte. Deacon hatte erst die Hälfte der Strecke zurückgelegt, als plötzlich Steine und Sand ihn einhüllten. Shan streckte beide Arme aus, packte mit einer Hand die Taschenlampe, mit der anderen Deacons Handgelenk und zog.
Mit einiger Anstrengung kam der Amerikaner frei. Für einen Moment blieb er bäuchlings liegen und rang nach Luft. Dann nahm er die Lampe und leuchtete jeden der vor ihm Wartenden einmal kurz an. »Okay«, sagte er mit gezwungenem Grinsen. »Ich schätze, jetzt kann Bao uns wirklich nicht mehr hören.«
»Wo genau ist dieser Ausgang, den du uns versprochen hast?« fragte Jakli langsam, als koste es sie bei jedem Wort große Anstrengung, nicht die Selbstbeherrschung zu verlieren. Vor ihr konnte man noch ein kurzes Stück des Tunnels erahnen, dann folgte Finsternis.
»Es muß einen Zugang geben. Früher befand sich hier eine Ansiedlung. Ihr habt die steinerne Ruine selbst gesehen«, erklärte Deacon. »Und Zisternen. Zwar sind fast alle Zisternen oben abgedeckt, aber es dürfte sich höchstens ein halber Meter Sand auf ihnen abgelagert haben.«
»Aber wie lange noch?« fragte Kaju und schaffte es nicht, die Angst in seiner Stimme zu verbergen. »Wo ist eine Zisterne? Ich bekomme kaum Luft.«
»Ich glaube, Mr. Deacon will sagen, wir sollten einfach weiterkriechen«, warf Shan ein.
»Genau«, bestätigte der Amerikaner in gedämpfter Lautstärke. »Noch ein paar Tage, dann kommen wir vielleicht im nördlichen Gebirge wieder heraus und haben Frösche in den Taschen.« Er leuchtete in die Gesichter der Jungen. »Es heißt, in manchen der alten karez lägen Schätze verborgen«, fügte er mit gespielter Begeisterung hinzu.
Batu lächelte. Jengzi wirkte eher skeptisch, aber dann krochen sie alle mit neuer Energie weiter und folgten Jakli, die sich vorsichtig in die Dunkelheit vorantastete.
Mehrere Minuten lang sprach niemand ein Wort, als könnte jedes zusätzliche Geräusch einen anderen der altersschwachen Pfosten zum Einsturz bringen. Dann hielt Kaju auf einmal inne. »Hier!« sagte er und deutete auf den Querbalken über seinem Kopf. »Wir haben Schutz.«
Deacon richtete den Lichtstrahl der Taschenlampe auf die bezeichnete Stelle, und sie sahen eine in leuchtendroter Farbe aufgemalte tibetische Inschrift. »Das sechssilbige Mantra«, sagte Kaju und schien neue Hoffnung zu schöpfen. »Dieser Tunnel wurde gesegnet.«
»Da, schon wieder!« rief Jakli und zeigte auf den Balken vor ihr. Die gleiche Inschrift in derselben Farbe. Jakli kroch in höherem Tempo weiter, als würde die Markierung auf einen nahen Ausgang hinweisen. Shan sah die junge Frau im Dunkeln verschwinden, aber das Geräusch ihrer Bewegungen dauerte fort. Dann hörte man unvermutet einige Steine herabpoltern, gefolgt von einem Platschen. Jengzi rief erschrocken Jaklis Namen. Er erhielt keine Antwort.
»Niemand rührt sich!« warnte Deacon. »Niemand zuckt auch nur mit der Wimper! Ich werde nachsehen.«
»Nein«, sagte Shan. »Sie sind ganz hinten. Reichen Sie die Lampe zu Jengzi durch.«
Die Augen des Jungen waren vor Angst geweitet, aber er nahm wortlos die Lampe entgegen und kroch voran. Fünf Meter. Zehn Meter. Schließlich hörte man aus einiger Entfernung Jaklis Stimme widerhallen, als befände sie sich in einem größeren Hohlraum. Die gedämpften Worte einer kurzen Unterredung drangen in den Tunnel und dann, kaum
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