Das Auge von Tibet
wobei er eine entfaltete Landkarte umherschwenkte, als würde er Bao eine Frage stellen. Es dauerte keine zehn Sekunden, da hatten auch Jakli, Jengzi, Shan und Kaju das Gebäude verlassen.
Deacon stand einige Meter entfernt bei den Überresten eines der kleinen Schuppen und riß die Bodenbretter weg. Bao konnte diese Stelle nicht einsehen, denn die Sicht darauf wurde ihm durch die Garage versperrt, wenngleich niemand wußte, für wie lange noch. Als Shan den Amerikaner erreichte, hatte Deacon bereits drei Bretter entfernt und ließ soeben die Kinder in einen darunter gelegenen Schacht hinab. Jakli und Kaju stiegen hinterher, dann folgte Shan und schließlich Deacon selbst.
»Was ist.«, setzte Shan an, aber der Amerikaner stieß ihn auf einen dunklen Fleck in der Rückwand des knapp zwei Meter tiefen Schachts zu. »So weit es geht nach hinten!« befahl Deacon in drängendem Flüsterton und streckte dann die Arme aus, um die Bretter zurück an ihren Platz zu ziehen.
Erst als er das erledigt hatte und sich mit seiner Taschenlampe den anderen näherte, erkannte Shan, daß sie vor einem mit Steinen ausgekleideten Tunnel standen. Der Gang war mehr als einen Meter hoch und ungefähr anderthalb Meter breit. Jengzi weinte. Er stand mit Jakli ganz vorn. Dann folgte Kaju mit Batu.
»Okay«, sagte Deacon hinter Shan. »Damit kann unsere kleine Archäologiestunde beginnen.«
»Archäologie?« keuchte Kaju. Shan konnte den Tibeter geräuschvoll atmen hören, als wäre die Luft knapp.
»Noch zehn Meter, dann ist es sicher genug, um zu reden«, flüsterte Deacon.
Auf dem Boden des Tunnels lag eine Sandschicht, unter der sich die gleichen quadratischen Steine befanden wie an der Decke und den Seitenwänden. Alle zweieinhalb Meter erstreckten sich Holzbalken über die volle Breite des Gangs und wurden von kleinen seitlichen Stützpfosten getragen. Während die Gruppe sich vorsichtig im trüben Schein von Deacons Bleistiftlampe vorantastete, rieselte aus den Fugen über ihren Köpfen Sand auf sie herab.
»Die karez«, erklärte Deacon, als sie anhielten. »Die alten Bewässerungskanäle aus den Bergen, in denen das Schmelzwasser transportiert wurde, so wie im Sandberg«
»Die Kanäle sind immer noch intakt?« fragte Shan.
»Sehen Sie doch selbst. Mitunter geht das noch kilometerlang so weiter. In der Gegend von Turpan werden sie auch heute noch zur Bewässerung benutzt, wie manche der alten römischen Aquädukte in Italien. Wir haben im Sandberg eine Landkarte entdeckt, auf der ein solcher Tunnel hier angedeutet wurde. Ich habe ihn heute morgen gefunden.«
»Aber das ist unmöglich«, sagte Kaju, nach wie vor keuchend. »Die können auf keinen Fall stabil sein. Wir werden.« Er hielt inne, und Shan schaute zu ihm. Die Augen des Lehrers waren auf seine Schüler gerichtet.
»Es gab überall Zugänge«, erläuterte Deacon. »Für die Wartungsarbeiten und um Wasser entnehmen zu können. Genau wie der Eingang, durch den wir hergelangt sind. Wir müssen bloß den nächsten finden, und dann klettern wir wieder hinaus. Wie Hasen aus ihrem Bau.«
Die Erbauer des Aquädukts hatten ganze Arbeit geleistet. Über weite Strecken lagen die Steine noch so dicht aneinander, daß kein Körnchen Sand auf dem Boden zu sehen war. An einigen Stellen gab es sogar kleine, abgestandene Pfützen, was bedeutete, wie Deacon aufgeregt hervorhob, daß zu Zeiten des Hochwassers, während des Frühlingstauwetters, manche der Bäche noch immer den Weg in die alten Tunnel fanden.
Je weiter sie vorankamen, desto deutlicher erkannte Shan ein Muster in der Abfolge der Stützpfeiler. Jeder fünfte Balken war dicker und mit eingeritzten Schriftzeichen sowie den Abbildern von Pflanzen versehen, vermutlich genau den Pflanzen, die durch die karez einst am Leben erhalten wurden. In der Mitte jedes dieser Balken befand sich ein kleiner, nach Norden weisender Drachenkopf, der abwehrbereit den bösen Geistern entgegenblickte, die womöglich versuchen könnten, durch die unterirdischen Kanäle vorzustoßen. Von vorn hörte Shan den tibetischen Jungen ein wimmerndes Geräusch ausstoßen, gefolgt von dem Ruf, es gebe hier Spinnweben. Shan hätte am liebsten selbst gewimmert. Zwar bestand keine akute Gefahr mehr, daß Bao sie entdeckte, doch drohte jederzeit ein Einsturz der brüchigen Wände. Falls die Decke über ihnen zusammenbrach, würde es keine Rettung für sie geben.
Er hörte Jakli beruhigend auf die Kinder einreden. Khoshakhan, sagte sie mehrmals, das
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