Das Auge von Tibet
etwas Erdnußbutter für Micah abzufüllen.
Kaju schaute zu Akzu, der mit dem Hund auf dem Dünenkamm oberhalb der Straße Position bezogen hatte. »Die Leute haben Angst«, sagte er zu Deacon. »Seine Pflegeeltern sind überaus scheu. Der nächste Unterricht ist für den Vollmondtag angesetzt. Nur noch ein paar Tage. Ich werde hier sein«, versicherte der Tibeter. »Ich werde allein kommen.«
»Sicher«, sagte Deacon mit unüberhörbarer Enttäuschung. »Der nächste Unterricht.« Er sah Shan an und zwinkerte ihm zu. »Ich habe an dem Tag bereits eine Verabredung.«
Shan lächelte. Wenigstens gab es inmitten all der Tragödien auch zwei Lichtblicke zu verzeichnen. Jakli würde ein neues Leben mit Marcos Sohn beginnen. Und Deacon würde mit Micah unter dem Vollmond sitzen und dem Orchester der Insekten lauschen.
Plötzlich fing der Hund an zu bellen. Sie sahen, daß Akzu aufstand. Er reckte die Hand empor und ließ sie dann zum Hinterkopf sinken, als wolle er sich dort kratzen.
Kaju keuchte erschrocken auf. »Das ist das Zeichen. Jemand kommt. Jemand, vor dem er uns warnen muß.«
»Verdammt!« rief der Amerikaner. Er begann, in den Taschen seiner weiten Hose herumzusuchen, während Kaju die Kinder in den dunklen Innenraum des Gebäudes drängte, so daß sie aus Akzus Sichtfeld verschwanden. Der alte Kasache verharrte an Ort und Stelle und schien jemandem aus Richtung der Straße entgegenzublicken. Er blieb absichtlich dort oben auf der Düne, damit die Neuankömmlinge zu ihm kommen würden und man sie vom Gebäude aus sehen konnte, begriff Shan. Jakli und Kaju zogen hastig die Torflügel zu, abgesehen von einem wenige Zentimeter breiten Spalt, durch den sie die Düne im Blick behalten konnten.
Kurz darauf tauchte an Akzus Seite ein Mann auf, der kleiner und stämmiger als der Kasache war. Als er das Clanoberhaupt ansprach, drehte er sich ein Stück zur Seite, so daß man seine Uniform deutlich erkennen konnte.
»Bao!« rief Jakli.
»Keine Angst«, sagte Kaju, ohne dabei überzeugend zu klingen. »Akzu hat einen Plan. Er wird behaupten, er suche nach geeigneten Pfaden, um die Herden der Brigade auf die Winterweiden zu treiben. Manchmal gäbe es hier in der Nähe Wasser. Wenn er welches fände, könne er mit einer Abkürzung quer durch die Wüste einen ganzen Tag sparen. Er wird sagen, er wolle nur der Brigade helfen, denn schließlich würde er selbst bald ein Anteilseigner sein. Da es hier kein Wasser gibt, wird er Bao fragen, ob der Major ihm nicht eine bessere Route empfehlen könnte. Falls Bao hilfsbereit ist, wird Akzu ihn begleiten. Falls nicht, wird Akzu so lange auf ihn einreden, bis sie zusammen wegfahren. Dann kommt er in vier Stunden wieder her. So haben wir es vereinbart.«
Diese Ausführungen schienen weder Deacon noch die Jungen besonders zu trösten, denn sie alle standen mit grimmigen Mienen im Halbdunkel. Der Amerikaner hielt einen Gegenstand in der Hand, den er nach einigem Suchen gefunden hatte - eine bleistiftgroße Taschenlampe. Auch der Rucksack hing bereits wieder über seinen Schultern. Deacon trat ans Fenster.
Shan beobachtete Bao mit kaltem, durchdringendem Blick. Der Mann wirkte wie ein dunkler Planet, in dessen Umlaufbahn Shan gefangen war. Wer befand sich sonst noch dort? Wie viele andere warteten hinter der Düne in einem Streifenwagen der Kriecher?
Shan drehte sich um. Jakli stand nun im Schatten bei den Jungen, hatte jedem von ihnen einen Arm um die Schultern gelegt und tröstete sie. In was für einem Land leben wir, dachte er, daß zehnjährige Kinder nicht nur wissen, was die Öffentliche Sicherheit ist, sondern sich zudem noch davor fürchten müssen? Er schaute von Jakli zu Deacon und wußte aus irgendeinem Grund, daß sie alle das gleiche dachten. Bao konnte sie allesamt festnehmen und damit so viel Ruhm ernten, daß sogar Peking auf ihn aufmerksam werden würde. Shan, der Flüchtling. Deacon, der illegale Amerikaner. Die Waisenjungen, für die es ein privat ausgeschriebenes Kopfgeld gab. Und Jakli, die gegen ihre Bewährungsauflagen verstieß.
Auf einmal zeigte Bao auf das Gebäude.
»Wir müssen gehen«, sagte Deacon und hob Batu zum Fenster.
»Gehen?« krächzte Kaju verzweifelt. »Es gibt keinen Ort, an den wir gehen könnten.«
»Aber natürlich gibt es einen Ort«, erwiderte Deacon. »Wir werden uns unsichtbar machen.« Der Amerikaner setzte Batu draußen ab und stieg selbst hinaus.
Bao kam langsam die Düne hinunter. Akzu zögerte und folgte ihm dann,
Weitere Kostenlose Bücher