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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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glaublich, Gelächter. Kaju und Batu eilten weiter, dicht gefolgt von Shan und Deacon.
    Als Shan und der Amerikaner die anderen einholten, fanden sie Kaju und die Jungen nebeneinander auf einem gemauerten, konkav gewölbten Sims vor, das in weitem Bogen die Hauptströmung der karez um ein gewaltiges, mit Steinen ausgekleidetes Loch herumführte. Die Zisterne, die angelegt worden war, um das überfließende Wasser des Hauptkanals aufzufangen, besaß einen Durchmesser von mindestens zwölf Metern, wurde von einer Kuppel aus paßgenau zurechtgeschnittenen Deckensteinen überdacht und bestand aus vier aufeinanderfolgenden Stufen. Jakli stand auf der obersten dieser Stufen bis zur Taille im Wasser. Das Sims verlief einen knappen Meter über ihrem Kopf.
    Deacon leuchtete die Decke und die gegenüberliegende Wand ab und stieß einen anerkennenden Pfiff aus. Im Scheitelpunkt der Zisterne hatten Wurzeln den Stein durchdrungen. Shan erinnerte sich an die überraschend zähen Sträucher, die sie mitten im Sandboden der Senke gesehen hatten.
    »Mit Jaklis Erlaubnis werde ich Batu und Jengzi als Entdecker vermerken«, sagte der Amerikaner. »Sie haben das große Geheimnis gelüftet.«
    »Ein Geheimnis?« fragte Kaju.
    »Wir haben soeben herausgefunden, warum dieser Ort schon immer Steinsee geheißen hat.«
    Das Grinsen der beiden Jungen reichte beinahe von Ohr zu Ohr. Von unten spritzte Jakli Wasser zu ihnen herauf.
    »Wenn es eine Zisterne gab, muß es auch einen Zugang gegeben haben«, sagte Shan.
    Deacon war auf dem Sims bereits zur gegenüberliegenden Wand unterwegs. »Vermutlich eine steinerne Treppe, die von einer Art Badehaus nach unten geführt hat.« Er hielt inne und leuchtete auf eine Stelle direkt unterhalb des Kuppelansatzes. »Ungefähr da«, sagte er. Man konnte dort einen großen Stein sehen, der von zwei gemauerten Säulen gestützt wurde, aber der Bereich unter diesem Türsturz war mit Felsen, Sand und Holzresten gefüllt. Der Durchgang war eingestürzt.
    Während Shan und Kaju die Arme ausstreckten und Jakli zurück auf das Sims zogen, suchte Deacon die Seite der Zisterne ab. »Es ist zu gefährlich«, schloß er. »Wenn wir die Felsen bewegen, bringen wir womöglich alles hier zum Einsturz. Aber die Zisterne muß sich ungefähr in der Mitte der Ansiedlung befunden haben. Es wird noch weitere Zugänge geben.«
    Unmittelbar nachdem er diese hoffnungsvollen Worte ausgesprochen hatte, flackerte die Lampe und ging fast aus. Deacon schüttelte sie, und das Licht wurde wieder heller, wenngleich nicht annähernd so hell wie noch kurz zuvor. »Weiter!« befahl er.
    Ungefähr fünfzig Meter hinter der Zisterne bat Jakli, die vorankroch, um die Lampe. Kurz darauf setzte sie mit zitternder Stimme zu einer Beschreibung dessen an, was vor ihnen lag. Aber dazu bestand keine Veranlassung. Der Lichtstrahl verriet ihnen alles. Mehrere Stützpfeiler hatten sich gelockert, und drei davon neigten sich gefährlich weit in den Gang hinein. Einer der Querbalken war zu Boden gefallen. Um ihn herum türmte sich ein Haufen aus Sand und Steinen auf. Ein weiterer der Pfosten war nahezu verrottet und schien auf kaum mehr als ein paar Spänen zu ruhen. Der Tunnel sah so aus, als würde er jeden Moment einstürzen.
    Hier in der gruftähnlichen Stille schien die Zeit irgendwie anders zu vergehen. Sie alle starrten das drohende Verhängnis an, und Shan wußte beim besten Willen nicht, wie lange es dauerte, bis Deacon das Wort ergriff.
    »Okay«, sagte der Amerikaner. Shan hörte ihn tief durchatmen, als versuche er, sich selbst zu beruhigen. »Jakli behält die Lampe. Sie geht zuerst, dann die Jungen. Dahinter brauchen wir eine kräftige Person, falls schnell gegraben werden muß, also geht erst Kaju, dann Shan. Ruft mich, sobald ihr einen stabilen Abschnitt erreicht, und ich komme hinterher. Ich bin am größten, also stelle ich auch das größte Risiko dar.«
    Niemand widersprach. Jakli schob sich langsam voran.
    »Sie werden dann aber kein Licht haben«, rief Kaju dem Amerikaner zu.
    »Ich habe Streichhölzer dabei«, entgegnete Deacon mit dumpfer Stimme. »Kein Problem.«
    Shan forderte den Tibeter zum Aufbruch auf, indem er kurz Kajus Bein anstieß. Die vier Gestalten drangen allmählich immer weiter voran. Erst drei Meter, quälend langsam, dann sechs Meter, und danach wurde der Lichtschein schnell schwächer, als führe der Tunnel um eine Biegung.
    »Ich weiß, daß Sie noch hier sind, Sie armer Irrer«, sagte Deacon in die Dunkelheit.

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