Das Auge von Tibet
»Sie sind kleiner als Kaju. Sie können es schaffen.«
»Ich dachte, es gibt hier vielleicht Grillen«, sagte Shan. »Wieso sollten nur Sie den ganzen Spaß haben?«
Lange Zeit herrschte Schweigen. Wenn Shan angestrengt lauschte, glaubte er das Geräusch der rieselnden Sandkörner hören zu können.
»Wie viele Streichhölzer haben Sie?« fragte Shan.
»Ich habe gerade nachgezählt. Zehn.«
»Ich habe ungefähr ein halbes Dutzend.«
»Großartig. Holen Sie uns schnell ein paar Marshmallows, damit wir die Dinger rösten können.«
Dann herrschte wieder Schweigen.
»Ich habe das Alte Eisenbein zum Singen gebracht«, verkündete Deacon in der Finsternis. »Tolle Baßstimme. Ich habe ihn mit etwas Erdnußbutter gefüttert.«
Sie unterhielten sich erneut über Grillen, sowohl die des alten Mönchs aus Shans Kindheit als auch jene, die Deacon bislang für seinen Sohn gesammelt hatte.
»Mehr können wir nicht tun?« fragte Shan schließlich und hörte, wie traurig seine Stimme klang. Der Mörder konnte abermals zuschlagen, während Shan hier unten in diesem sandigen Grab lag, in das die Kriecher ihn gehetzt hatten.
»Im Dunkeln weiterzukriechen.«, sagte der Amerikaner hastig, als wolle er die Angelegenheit so schnell wie möglich hinter sich bringen, »... wäre Selbstmord. Eine Handvoll Streichhölzer macht da keinen Unterschied. Also warten wir. Jakli wird uns eine ganze Horde Pfeifhasen mit Helmleuchten schicken.«
»Wir könnten umkehren«, schlug Shan vor.
»Dahinten ist es auch nicht besser. Sie rechnet hier an dieser Stelle mit uns.«
Wollte er damit zum Ausdruck bringen, daß man hier an dieser Stelle nach ihren Leichen graben würde? fragte Shan sich.
Ein Streichholz flammte auf und blendete Shan. Deacon sah ihn an, den Kopf auf einen Arm gestützt, und wirkte dabei seltsam friedlich.
»Bleiben wir einfach hier liegen, bis wir verhungert sind?« fragte Shan.
»Nein«, sagte Deacon merkwürdig ruhig. »Die Luft hier drinnen zirkuliert nicht. Bis dahin sind wir längst erstickt.«
Das Streichholz verlosch.
Shan legte sich hin und verschränkte die Hände im Nacken. Hinter sich konnte er den leisen Atem des Amerikaners hören. Er streckte einen Arm aus, fuhr mit den Fingerspitzen über die Steine und fühlte sich auf eigenartige Weise den Erbauern der karez verbunden. Vor Shan waren andere Männer hier gewesen, ehrwürdige Männer, die im trüben Schein der Öllampen arbeiteten, Steine und Stützbalken mit leichten Hammerschlägen an die gewünschte Position beförderten und durch genaue Vermessungen sicherstellten, daß das Wasser dem Zug der Schwerkraft folgen würde. Manche hielten inne, um Inschriften im Tunnel anzubringen, die niemand je lesen würde. Niemand außer einer kleinen verzweifelten Gruppe Ausgestoßener, viele Jahrhunderte später.
Was würde wohl geschehen, falls jemand in tausend Jahren seine Leiche barg? Bestimmt würde man seine Kleidung betrachten und sagen: Seltsam, dieser vertrocknete Han-Chinese mit dem alten tibetischen gau trägt Textilien aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert, hat aber gleichzeitig ein Medaillon aus dem zehnten Jahrhundert in der Tasche.
»Stimmt es, daß es Lamas gibt, die mit Bergen sprechen können?« ertönte Deacons Stimme in der Schwärze.
Shan lächelte. »Ich schätze, Berge haben bestimmt eine Menge zu sagen.«
»Ein Berg ist uralt«, sagte der Amerikaner sehr langsam und inzwischen auf englisch. »Und voller Wasser, Kristalle und Wurzeln. Ich könnte viel von einem Berg lernen.« Schweigend atmete er mehrmals ein und aus. Der Sauerstoffmangel machte sich allmählich bemerkbar. »Früher bin ich oft in den Bergen gewandert, habe mich unter riesige Bäume gesetzt und einfach alles auf mich wirken lassen. Ich habe dabei nicht mehr gedacht, nur noch gefühlt. Stundenlang.«
»Eine Meditation«, sagte Shan.
»Ja, so ähnlich. Ich habe gehört, daß es in Tibet Leute gibt, die so etwas jahrelang machen. Falls ich mehrere Jahre damit zubringen würde, wäre ich... keine Ahnung. Ich wäre nicht mehr ich selbst. Ich wäre etwas Besseres. Etwas, das mehr ist als nur ein Mensch.«
»Ich habe solche Leute getroffen«, sagte Shan.
»Dann sind Sie ein Glückspilz. Ich hingegen, na ja, wahrscheinlich hoffe ich lediglich darauf, etwas wirklich Gutes zu tun, damit ich mein nächstes Leben vielleicht als Einsiedler in Tibet verbringen kann.«
Dann schwiegen sie wieder. Deacon entzündete ein weiteres Streichholz und hielt es dicht an die Wand, weil er
Weitere Kostenlose Bücher