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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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geheuer.
    Kaju behielt mit besorgter Miene die Straße im Auge.
    »Kommt sonst noch jemand?« fragte Shan.
    »Ich weiß es nicht. Nachdem nun auch Jengzi eingetroffen ist, fehlt nur noch ein einziger der Jungen. Er ist hoch in den Bergen, weitab von allem anderen.« Er warf Shan einen wissenden Blick zu. Micah, der Amerikaner, war nicht aufgetaucht.
    »Aus der Stadt, meine ich«, sagte Shan.
    »Nein«, gab der Tibeter unentschlossen zurück. »Direktor Ko hat mir aufgetragen, die Kinder im Anschluß an den Unterricht alle mitzubringen, damit er ihnen die Geschenke überreichen kann. Ich habe ihm gesagt, daß angesichts der jüngsten Ereignisse kaum mit dem Erscheinen der zheli zu rechnen sei.«
    Shan nickte und sah dabei Jengzi an. Der Junge hatte bei einem der Schattenclans gelebt. Vielleicht wußte er, wo Micah sich aufhielt.
    Kaju folgte Shans Blick. »Er spricht tibetisch«, sagte der Lehrer leise. »Er hat eine alte Gebetskette, die ihm geschenkt wurde, als er noch ein Baby war.«
    »Wo haben Sie ihn gefunden?« fragte Shan.
    »Auf der Straße, acht Kilometer südlich von hier. Zu Fuß. So ist das bei seiner zheli -Familie üblich. Sein Pflegevater will nicht gesehen werden und meidet daher Straßen wie die Pest. Er mißtraut jedem. Letzte Nacht sind sie mit Jengzi aus dem Hochgebirge heruntergekommen und haben sich dann in den Ausläufern versteckt. Bei Einbruch der Dunkelheit werden sie zurückkehren, um den Jungen wieder abzuholen.«
    Als Shan einen Schritt vortrat, berührte Kaju ihn am Arm. »Als ich aufgebrochen bin, hat Ko noch etwas gesagt. Ich soll fragen, ob die Jungen gern in einem Hubschrauber mitfliegen würden. Er sagte, er könne mit dem Helikopter der Brigade herkommen. Ko möchte nur behilflich sein«, schloß der Tibeter verunsichert.
    Einer der Jungen stieß einen überraschten Ruf aus. Shan drehte sich um und sah, daß Jengzi aufgeregt in den dunklen Innenraum des Gebäudes deutete. Neben einem zerbrochenen Fenster in der Rückwand konnte man dort im Schatten den Umriß einer Gestalt erkennen, die auf einer stählernen Tonne saß. Kaju riß Jengzi zurück.
    »Hat zufällig jemand Hunger?« rief eine tiefe Stimme. »Ich habe uns ein wenig multikulturelle Küche mitgebracht. Erdnußbutter.« Jacob Deacon trat ins Tageslicht.
    Aufmerksam verfolgte Shan, daß die Jungen den Amerikaner herzlich begrüßten, als würden sie ihn bereits kennen. Gierig rissen sie ihm das Glas aus den Händen und schraubten den Deckel ab.
    Deacon umarmte Jakli, nickte Shan zu und streckte dann Kaju die Hand entgegen. »Eine kleine Klasse für den neuen Lehrer«, sagte er.
    Kaju nahm seine Hand und schaute nervös zur Straße. »Ich hätte nicht damit gerechnet, Micahs Vater heute hier anzutreffen. Nicht nach all dem Ärger.«
    »Ärger? Was für Ärger? Lau wollte, daß ich den Schülern etwas von archäologischen Ausgrabungen und Fossilien erzähle. Sie hat mich schon vor Wochen darum gebeten, und ich habe zugesagt zu kommen.«
    »Aber wie bist du hergekommen? Hast du den ganzen weiten Weg zurückgelegt?« fragte Jakli. »Was ist, wenn dich jemand gesehen hat?«
    Deacon hob die Hand, um Jaklis Protest zu bremsen. »Es ist gar nicht so weit, wenn man in gerader Linie durch die Wüste reitet. Mit einem guten Kompaß und einem guten Pferd nur vier Stunden. Ich bin um Mitternacht aufgebrochen. Und ich werde vor Sonnenuntergang zurück sein.«
    »Du hast die ganze Zeit hier gewartet?«
    Deacon wies auf einen kleinen Rucksack, der an der Tonne lehnte. »Es gibt stets ein paar Forschungsergebnisse aufzuschreiben.« Er klang geistesabwesend und ließ den Blick fortwährend über die Dünen schweifen. Nicht wegen der Gefahr, wußte Shan, sondern wegen seines Sohns. Deacon war wegen Micah hier.
    Die beiden Jungen hockten sich zu Füßen des Amerikaners hin. Sie waren noch immer ganz aufgeregt wegen der Erdnußbutter, die sie aus dem Glas geleckt hatten.
    Batu grinste. »Micah vermischt die Erdnußbutter mit Reis und formt dann kleine Klöße daraus.« Er sah zu Deacon hoch. »Bitte lassen Sie mich etwas davon mitnehmen. Ich wjrde ihn diese Woche in den Bergen treffen. Mahk und ich...«: Der Junge warf Jakli und Shan einen schuldbewußten Blick zu. »Wir wollen oben bei den Gletschern nach ihm suchen«, sagte er leise. Er zupfte an Deacons Ärmel, bis der Amerikaner die Augen von den Dünen abwandte. Deacon kniete neben ihm nieder und klopfte sich die Taschen ab, als würde er nach einem geeigneten Behälter suchen, um darin

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