Das Auge von Tibet
jemand etwas aus dem Hintergrund rief und alle schlagartig verstummten. Die Menge teilte sich, und ein prächtiges weißes Pferd tänzelte heran, geführt von Wangtu, dem kasachischen Fahrer, den Shan im Lager Volksruhm kennengelernt hatte.
Marco schob Jakli nach vorn, und mit scheuem Lächeln überreichte Wangtu ihr die Zügel des Pferdes. »Ich weiß, wenn Nikki kommt, wird er noch fünf Tiere wie dieses mitbringen«, sagte er laut, so daß die Umstehenden ihn hören konnten. »Aber wenigstens bin ich der erste.«
Es handelte sich um das Pferd, das sie beim Reislager gesehen hatten, davon war Shan überzeugt. Das feurige Geschöpf sah Jakli an, und sein Blick wurde sanft. Dann trat es vor, und sie streckte eine Hand aus. Als das Pferd seine Schnauze in Jaklis Handfläche barg, jubelten die Kasachen. Malik rannte weg und kehrte gleich darauf mit dem silbernen Zaumzeug zurück.
Im Verlauf der nächsten Stunde schauten viele im Lager Jakli dabei zu, wie sie mit ihrem weißen Pferd immer wieder quer über die Freifläche galoppierte, während andere aufsattelten und sich zu ihr gesellten. Endlich ließ sie sich zu einer Runde khez khuwar überreden, und obwohl viele junge Männer gern einen Kuß von ihr gewonnen hätten, konnte niemand sie einholen.
Shan fand Malik unter einem Baum am nördlichen Ende des Feldes. Er saß dort schweigend mit einem der Hunde, der ihm den Kopf auf die Beine gelegt hatte. Shan nahm neben ihm Platz, und gemeinsam beobachteten sie die Reiter.
»Ich muß immerzu an den Tag denken, an dem du ihn gefunden hast«, sagte Shan schließlich. »Ich frage mich, was ist, wenn da noch etwas war? Etwas, das Malik behalten und nicht auf das Grab gelegt hat. Das wäre bedauerlich, denn Malik würde Schuldgefühle bekommen, obwohl er doch nur ein Andenken an Khitai wollte, und dann würde die Erinnerung an seinen Freund eventuell von einer Wolke überschattet.«
»Es ist so viel geschehen«, sagte Malik und sah dabei den Hund an. »Ich begreife kaum etwas davon.« Er seufzte, und der Schmerz war ihm deutlich anzumerken. »Ich wollte doch nur etwas zurückbehalten, weil wir Freunde gewesen sind. Ich hatte fast nie Freunde. Ich meine, einen ganz gewöhnlichen anderen Jungen. Er war so sanft mit den Lämmern.« Malik knöpfte sich das Hemd auf und nahm den Gegenstand ab, der um seinen Hals hing. Ein großes silbernes gau , dessen Oberfläche mit einem filigranen Webmuster verziert war.
»Ich habe Sie nicht angelogen«, sagte der Junge. »Sie haben mich gefragt, ob er etwas bei sich trug. Aber das hier lag zwischen den Felsen am Boden. Ich habe nie hineingeschaut.« Dann reichte er es Shan, stand lächelnd auf, als sei er erleichtert, das Medaillon losgeworden zu sein, und ging mit dem Hund zum See.
Shan brachte es zu Lokesh, der mittlerweile aufrecht auf seinem Bett saß und den schlafenden Gendun betrachtete. Der alte Tibeter musterte das gau ehrfürchtig, ohne es zu öffnen, schüttelte dann aber den Kopf und gab es Shan zurück. Das war nicht der Jadekorb.
»Es kann sein, daß Khitai den Korb bisweilen an ganz besonderen Orten aufbewahrt hat, um ihn zu schützen«, sagte Lokesh, verzog das Gesicht und sah Shan an. »Deshalb hat er ihn an den amerikanischen Jungen ausgehändigt, nicht wahr? Um ihn zu schützen.«
Shan nickte. Es gab keine andere Möglichkeit mehr. Und die Bestätigung stammte aus dem Mund von Anklägerin Xu. Zwei Clans waren zum Lamafeld gekommen, und zwei zheli -Freunde hatten sich dort getroffen, um nach Blumen zu suchen. Khitai, der die Gefahr spürte und um die Bedeutung des gau wußte, hatte den Jadekorb in sichere Verwahrung gegeben. Nur für ein paar Tage, hatte er vermutlich zu Micah gesagt, denn immerhin würden sie bald gemeinsam nach Amerika reisen.
Lokesh reckte den Kopf in mehrere Richtungen und ließ dabei das gau in Shans Hand nicht aus den Augen, als müsse er das Geheimnis aus dem richtigen Blickwinkel ergründen. »Dieser letzte Junge, dieser Amerikaner, hat den heiligen Korb«, sagte er wie zur Bekräftigung.
Inzwischen weiß das auch der Mörder, hätte Shan fast hinzugefügt. Er mußte an die nächtlichen Leuchtkugeln denken. Baos Patrouillen waren weiterhin dort draußen auf der Suche. In einem Punkt hatte Akzu sich geirrt. Micah befand sich nicht in Sicherheit, nicht sobald er die Berge verließ, um zum Steinsee zu kommen.
Lokesh blickte bekümmert auf. »Wie konnte so etwas nur geschehen?« fragte er.
Draußen wurde es langsam dunkel. Die ersten Feuer
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