Das Auge von Tibet
mich gewesen«, sagte sie. »Ich habe viel von Ihnen gelernt.«
»Wir sollten zurückbleiben«, warnte Shan. Die großen Geröllblöcke, die sie der Sicht der anderen entzogen, wurden spärlicher. Noch fünfzehn Meter und sie würden auf offenem Gelände stehen.
Jakli deutete auf einen Felsen. »Da ist eine gute Deckung. Die Kriecher werden bald verschwunden sein.«
Sie nahm Shans Hand und legte etwas hinein. Dann stieß sie ihn in Richtung des Felsens. »Benutzen Sie es«, drängte sie. »Fliehen Sie von hier. Beginnen Sie Ihr neues Leben.« Sie zog ein Stück Papier aus der Tasche und ließ es zu Boden fallen.
»Nikki und ich, das war wie ein Traum. Es hätte nie ein Teil dieser Welt sein können. Es wird bis irgendwann in der Zukunft warten müssen.« Jakli machte einen Schritt, blieb wieder stehen und blickte über ihre Schulter den Hang hinauf zu den Tibetern. »Lha gyal lo« , flüsterte sie. Mögen die Götter siegreich sein.
Shan lief zu dem Felsen, aber als er sich umwandte, war Jakli nicht da. Sie ging zu ihrem weißen Pferd. Wenn sie sich beeilte und den Kamm hinaufritt, könnten die Wagen ihr nicht folgen, und die Flucht würde gelingen, erkannte Shan.
Doch kurz darauf löste Jakli den Sattelgurt, dann das Zaumzeug und verpaßte dem Tier einen kräftigen Klaps. Es lief davon, den steilen Grat hinauf. Jakli ging weiter auf die Kriecher zu. Neben Shan tauchte plötzlich Fat Mao auf, völlig außer Atem und zitternd vor Erschöpfung.
»Ich habe ihr gesagt, sie soll es nicht tun«, keuchte er. »Überall in Yutian waren Kriecher. Ein paar hatten sich als Lehrer getarnt und warteten in der Schule auf die zheli . Andere behielten insgeheim die Pferde im Blick, weil sie hofften, die Kinder würden sich ihre Preise abholen. Aber Jakli hat es dennoch gemacht. Sie sagte, sie hätte keine Kriecher bemerkt, und außerdem würde es wie ein Zufall aussehen, als hätte jemand das Tor nicht richtig verschlossen. Ich sagte ihr, das dort seien die Einsatzkommandos mit elektronischen Überwachungsgeräten. Und du hast doch schon drei Schüsseln. Falls sie dich erwischen, sagte ich, dann schaffen sie dich weg, erst nach Kashi und einen Tag später in irgendeine Kohlengrube. Und da bleibst du die nächsten Jahre.«
Die Herde. Shan erinnerte sich, wie spät Jakli eingetroffen und wie schweißgebadet ihr Pferd gewesen war. Dann fielen ihm ihre Worte an Zharyas Grab wieder ein. Sie hatte sich angemessen verabschieden wollen, als Geste für die Kasachen und im Gedenken an ihren Onkel, den Pferdesprecher. Sie war diejenige, die das Gatter geöffnet und die Herde freigelassen hatte.
Shan stand auf, aber zwei der Soldaten hatten Jakli bereits entdeckt und eilten auf sie zu. Die Kriecher waren wegen Jakli hergekommen, die ihnen in Yutian offen die Stirn geboten hatte. Falls Jakli nicht auftauchte, würde man ihre Angehörigen ins Gefängnis sperren.
Die Männer packten sie bei den Armen und zerrten sie grob zu Major Bao.
»Jakli!« rief jemand. Wangtu trat aus der Menge und wollte zu ihr eilen. Ein Kriecher rammte ihm den Kolben seiner Waffe in den Bauch, worauf der Kasache stöhnend zusammenbrach.
Die Nachricht schien sich wie ein Lauffeuer im ganzen Lager zu verbreiten. Männer, Frauen und Kinder, manche davon auf Pferden, näherten sich den beiden Fahrzeugen. Erst hundert, dann zweihundert Kasachen umringten die Kriecher, die mit schußbereiten Waffen abwarteten, während Bao großspurig vor Jakli auf und ab lief und die wütenden Schreie ignorierte. Die Soldaten ließen Jaklis Angehörigen los. Daraufhin sprang Malik einen der Männer an und schlug mit den Fäusten auf ihn ein. Der Kriecher schleuderte ihn zu Boden und hielt ihn mit dem Stiefel unten, bis zwei der Hirten den Jungen wegzogen. Dann deutete Akzu nach oben. Das weiße Pferd hatte den Kamm erreicht und stand stolz auf einem Felsvorsprung über dem Lager, als würde es die Vorgänge beobachten.
»Niya!« schrie jemand. »Niya Gazuli!«
Die Kriecher legten Jaklis Hände und Füße in Ketten. Wangtu kniete keuchend auf der Erde und hielt sich den Bauch. Die Soldaten wollten sie an den Ketten wegziehen, aber Jakli wehrte sich und rief ihnen trotzig etwas zu. Dann ließen die Männer die Ketten los. Jakli hob sie auf und ging allein und erhobenen Hauptes zu dem wartenden Lastwagen.
Immer mehr Clanangehörige griffen Niyas Namen auf und formierten sich in einer langen Reihe am Rand des Weges, der aus dem Tal führte. Andere Reiter kamen auf den Hängen aus
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