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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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ihren besorgten Blick bemerkte. Sie fühlte sich schon schuldig genug, daß sie ihr Volk in so einer Situation verlassen würde. »Wir können Sie durch Marco auf dem laufenden halten. Er wird wissen, was passiert. Alles kommt in Ordnung«, versicherte er und bemühte sich, möglichst zuversichtlich zu klingen. Er deutete auf die grasende Herde jenseits der Zelte. »Die Pferde sind wieder frei.«
    »Ich habe in letzter Zeit viel über Marco nachgedacht«, sagte Jakli. »Er wird einsam sein. Alle anderen werden weggehen. Er mag Sie. Er würde es nie zugeben, aber ich weiß es. Vielleicht können Sie ihm ja manchmal schreiben, wo auch immer Sie sein mögen.«
    Shan lächelte. »Aber natürlich«, sagte er und wußte, daß es unmöglich war. Ausgestoßene und Flüchtlinge pflegten nicht miteinander in Briefwechsel zu stehen.
    »Ich wünschte.« Jakli verstummte schlagartig und hob die Hand. Man konnte Gewehrfeuer hören, nicht die wahllosen Salven der Feiernden, sondern gleichmäßig aufeinanderfolgende Schüsse im Abstand von mehreren Sekunden, die immer lauter wurden. Der letzte wurde vom Felsgrat über dem Lager abgegeben.
    »Die Wachen!« rief Jakli erschrocken und stand auf. »Das sind Warnschüsse.«
    Überall brach hektische Aktivität aus. Shan sah Kinder, die zu den Bäumen hinter der Weide gescheucht wurden. Vom Lager des Roten Steins löste sich eine dichtgedrängte Gruppe Jungen in Begleitung zweier Kasachen mit Jagdgewehren. Die zheli floh. Männer sammelten sich in kleinen Gruppen an den Zugängen der jeweiligen Clanlager.
    Shan schaute den Hang hinauf und entdeckte Lokesh, der neben Gendun stand und ihnen zuwinkte. Shan bedeutete ihm, sie sollten in Deckung gehen, woraufhin die Tibeter hinter dem Felsen verschwanden. Dann stöhnte Jakli auf. Ein schwarzer Geländewagen kam in Sicht, gefolgt von einem Mannschaftstransporter. Als die Fahrzeuge vor dem ersten Zelt anhielten und die Besatzungen heraussprangen, zog Shans Magen sich schmerzhaft zusammen. Kriecher. Eines der Einsatzkommandos. Er stieß Jakli in den Schutz eines Geröllblocks.
    »Vielleicht ist es nur eine Routinekontrolle«, sagte er wenig überzeugend.
    Jakli schüttelte wortlos den Kopf.
    Die Soldaten waren mit Maschinenpistolen ausgestattet. Sie formierten sich zu beiden Seiten der Offiziere, als rechneten sie mit Widerstand, und rückten dann vor, wobei sie den Bewohnern der ersten Jurten zuriefen, die Papiere bereitzuhalten. Die Leute stellten sich in einer Reihe auf, aber niemand sammelte ihre Ausweise ein. Statt dessen löste einer der Offiziere sich von den anderen, schritt allein die Warteschlange ab und musterte die Gesichter der Leute. Nein, er schritt nicht - er stolzierte. Es war Bao. Mit einer beiläufigen Geste ließ er die erste Kasachengruppe wegtreten und umgehend in den Zelten verschwinden.
    Die Kriecher wiederholten die Prozedur bei zwei weiteren Gruppen. Shan überlegte fieberhaft. Es konnte ein oder zwei Stunden dauern. Er und Jakli mußten unterdessen hier auf dem Hügel in ihrem Versteck bleiben. Er sah den Abhang hinauf und fragte sich, ob es ihm wohl gelingen könnte, zu Gendun und Lokesh zu schleichen.
    »Marco ist entwischt«, flüsterte Jakli. »Ich konnte sehen, wie Sophie zwischen den Bäumen verschwand.«
    Nun hatten die Kriecher das sechste Lager erreicht, das Lager des Roten Steins. Sie fragten gar nicht erst nach den Papieren, sondern brachten Akzu, seine Frau und Malik sofort ein Stück weg, etwa dreißig Meter von ihren Fahrzeugen entfernt. Bao umrundete die drei und brüllte sie an. Shan warf einen kurzen Blick auf Jakli. Sie hatte die Faust geballt und biß sich dermaßen fest auf den Knöchel, daß sie wahrscheinlich gleich bluten würde.
    Bao rief einem der Soldaten einen Befehl zu. Der Mann stieg in den Lastwagen und kehrte mit Handschellen zurück.
    Jakli schaute zu den Bergen im Westen. In ihren Augen standen Tränen. Die Kriecher trieben ihre Verwandten zu den Fahrzeugen.
    Jakli stand langsam auf, ohne den Blick von den Bergen abzuwenden, als könnte Nikki jeden Moment über einen der Kämme reiten. »Heute ist ein guter Tag für die geplanten Wettrennen«, sagte sie so beiläufig, als wäre dies eine belanglose Plauderei. Die Tränen waren einem kühlen, entschlossenen Funkeln gewichen.
    Shan erhob sich ebenfalls, unsicher und verängstigt.
    Jakli ging den Pfad hinunter auf die Zelte zu. Shan verharrte einen Augenblick allein und eilte dann hinter ihr her.
    »Sie sind wie ein älterer Bruder für

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