Das Auge von Tibet
eine kostenlose dicke Melonenscheibe in die Hand drückte. Die Hälfte der Händler bot Zaumzeug, Reitgerten oder Stiefel feil, die sie während langer einsamer Nächte in ihren trüb erleuchteten Zelten gefertigt hatten, mutmaßte Shan. Er setzte sich und beobachtete die Kasachen, die nahezu durchgängig ein kleines melancholisches Lächeln auf den Gesichtern trugen. Es war ein Festtag, aber sie alle kannten die eine traurige Gewißheit: Dies war das letzte Mal, daß sich die Clans der Region versammeln konnten. Nahe dem Zentrum der Ansiedlung hatte jemand ein großes Brett an einen Baum genagelt. Daran hingen Zettel mit handschriftlichen Nachrichten sowie gedruckte Formblätter, auf denen die neue Arbeitszuteilung der Brigade für viele der Kasachen bekanntgegeben wurde. Immer wieder suchten die Leute zu zweit oder dritt dieses Brett auf. Manche seufzten dann erleichtert und schüttelten ihren Freunden oder Clanangehörigen die Hände. Andere lasen mit düsterer Miene und gingen dann traurig weg, um sich allein irgendwo zwischen die Felsen zu setzen. Shan bemerkte, daß Batu besorgt in Richtung Horizont blickte. Auch dem Jungen war klar, daß die Mörder noch nicht aufgegeben hatten.
Jenseits der Zelte erstreckte sich eine ausgedehnte Ebene. Bei anderen nadams habe es immer ein Gehege mit zwei- oder dreihundert Pferden gegeben, erzählte Malik bekümmert. Aber die Brigade hatte ihnen nur ihre persönlichen Reittiere gelassen und alle anderen eingesammelt, die nun zu Hunderten für den Abtransport aus Yutian vorbereitet wurden.
Über das Feld galoppierten unterdessen zehn oder zwölf jugendliche Reiter auf das nördliche Ende des Tals zu. Das sei ein khez khuwar, erklärten die Jungen, ein traditionelles Spiel der Clans. Bei diesem Wettrennen erhielten die Mädchen einige Meter Vorsprung und wurden dann von den Jungen bis zu der gegenüberliegenden Markierung verfolgt. Falls ein Junge ein Mädchen einholte, mußte sie sich von ihm beim Reiten küssen lassen, aber sobald die Mädchen das andere Ende der Ebene erreichten, durften sie die Jungen zurück zum Start hetzen und beim Überholen mit ihren Reitpeitschen traktieren.
Hinter ihnen brandeten unversehens lautes Johlen und Pfiffe auf. Das alles galt einem Reiter, der auf einem holprigen, unbefestigten Weg das Tal hinaufkam. Malik kletterte auf einen Baumstumpf, um gleich darauf begeistert zu strahlen. »Jakli!« rief er. Shan stellte sich neben ihn und sah, wie die junge Frau mit ihrem erschöpften, schweißgebadeten Pferd die ersten Jurten erreichte.
Als sie sich hinsetzten, um wieder den Reitern auf dem Feld zuzusehen, ließ jemand einen der süßen Teigringe vor ihren Nasen baumeln. Die Jungen lachten und griffen gierig nach dem Leckerbissen, noch bevor ihr Gönner überhaupt etwas sagen konnte. Es war Jacob Deacon. Er wolle die Ereignisse des nadam festhalten, erklärte der Amerikaner. Außerdem habe er den Hirten weitere Holztafeln mitgebracht, die sie bei sich behalten sollten, wenn die Brigade sie in alle vier Winde verstreute. Shan wußte, daß Deacon obendrein gehofft hatte, Micah wäre vielleicht aus seinem Versteck gekommen.
»Man hat ihnen eine Nachricht geschickt«, sagte der Amerikaner fröhlich, als hätte er Shans Gedanken gelesen. »Nur noch drei Tage.«
Er wollte sich setzen, als überall auf dem Gelände plötzlich abermals Jubelschreie ertönten. Deacon wies nach Norden Auf dem Pfad neben dem See kam Marco herangeritten. Er war bereits nahe genug, daß sie die fremdartige Filzmütze auf seinem Kopf erkennen konnten, in der langstielige Blumen und Federn steckten. Sein Kamel war schwer beladen. »Geschenke von der Familie des Bräutigams«, erklärte Deacon. »Ein alter kasachischer Brauch.«
Je näher Marco kam, desto lauter jubelten die Leute. Eine Minute später brach im Lager aufgeregtes Gemurmel aus, denn im Gefolge des eluosi ritten zwei weitere Männer zwischen den Bäumen hervor. Diesmal gab es keine Hurrarufe. Es klang eher danach, als würde eine wichtige Neuigkeit schnell und in ehrfürchtigem Tonfall die Runde machen. Die beiden Männer waren alt, und einer von ihnen trug ein kastanienbraunes Gewand.
Kaum jemand sprach ein Wort. Shan ging den Tibetern entgegen und nahm schweigend die Zügel von Genduns Esel, um ihn zum Lager des Roten Steins zu führen. Er habe die beiden beim Tränenbrunnen angetroffen, bestätigte Marco, wo sie damit beschäftigt gewesen seien, winzige rote Gebetsfahnen an den Felsen zu befestigen. Shan sah
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