Das Auge von Tibet
letzte Schattenclan hat uns eine Botschaft geschickt, eine Nachricht am Halsband eines Hundes. Ihr zheli -Junge werde beschützt, stand dort. Er wird in drei Tagen zum Steinsee kommen. Außerdem waren einige Maos im Hochgebirge unterwegs«, erklärte Akzu. »Sie haben ein paar Bäume gefällt und kleine Lawinen ausgelöst, um die Straßen zu blockieren, so daß die Patrouillen der Kriecher nicht mehr passieren können. Die Maos sind weiterhin dort oben und halten Ausschau. Dieser letzte Junge ist bis zu unserem Treffen außer Gefahr. Wir können feiern.« Der alte Kasache schien aufrichtig glücklich zu sein, nicht nur, weil die Jungen sich in Sicherheit befanden. Shan vermutete, daß der Clan des Roten Steins zudem eine Möglichkeit ersonnen hatte, die Brigade und ihr Programm zur Beseitigung der Armut zu überlisten.
Akzu umrundete Shan mehrere Male und reichte ihm dann eine zerlumpte Mütze aus Fuchspelz sowie eine zerkratzte Sonnenbrille. »Ein nadam ist für uns Kasachen ein besonderes Ereignis. Einmal sind Chinesen aus Urumchi zu Besuch gekommen, ein Parteisekretär und sein Gefolge. Es hat fast einen Aufstand gegeben.« Er inspizierte die Verkleidung und zog Shan die Mütze tiefer in die Stirn. »Deine Haut müßte dunkler sein.«
Noch bevor Shan begriff, was Akzu vorhatte, nahm der Kasache eine Handvoll Schlamm und fing an, ihm damit die Wangen einzureiben. Mao der Ochse lachte.
»Jetzt riechst du wenigstens wie ein Nomade«, stellte Akzu grinsend fest. Shan starrte ihn einen Moment lang an, seufzte dann resigniert und führte die Aufgabe zu Ende. Dann folgte er Akzus Beispiel und wischte sich die Hände am Schweif seines Pferdes ab.
Der Clanälteste führte sie den Bergrücken entlang zu einem Vorsprung, von dem aus man ein langgestrecktes Hochtal überblicken konnte. Im Süden und Westen wurde es durch riesige schwarze Felswände begrenzt, die sich mehr als hundert Meter über den Talgrund erhoben. Im Norden lag ein türkisfarbener See, der an drei Seiten von Immergrün und Pappeln eingerahmt wurde. Das alles wirkte wie eine gewaltige Kammer, die jemand in den Berg gegraben hatte. Ausgelegt war diese Kammer mit einem Teppich aus grünbraunem vertrocknetem Gras, und ihr Mobiliar bestand aus ungefähr fünfzig runden Kissen aus schwarzem, beigefarbenem, braunem und weißem Stoff.
Shan nahm die Sonnenbrille ab, um den Anblick besser auf sich wirken lassen zu können. Die Kissen waren Jurten, die in Gruppen zu jeweils drei oder vier beisammenstanden und in ihrer Mitte Seilpferche für die Kamele und Pferde beherbergten. Mao der Ochse stieß einen lauten Freudenschrei aus, ließ die anderen einfach auf dem Vorsprung stehen, sprang auf sein Pferd und galoppierte ins Tal hinab.
Zwanzig Minuten später überquerten Akzu und Shan das Gelände und steuerten ein Lager aus drei Jurten an. Ein Junge rief etwas, und Shan sah Malik und Batu zu seiner Begrüßung herbeilaufen. Sie halfen ihm, das Pferd abzusatteln und anzubinden. Dann hob Malik einen Finger an die Lippen und führte ihn leise um die angeleinten Pferde herum zu einer Stelle, von der aus sie den Platz zwischen den ersten beiden Zelten beobachten konnten. Dort standen sechs Frauen, plauderten vergnügt und lachten; eine von ihnen sang sogar ein Lied. Auf einer Leine zwischen den Zelten hing ein Kleid.
Zwei der Frauen arbeiteten an den Ärmeln, während gleichzeitig eine dritte vor dem Saum kniete. Es war ein wunderschönes weißes Kleid, das man mit zahllosen Blumen-und Pferdestickereien verziert hatte. Von der dazugehörigen Braut war jedoch keine Spur zu entdecken.
Die anderen Jungen der zheli standen dicht gedrängt um eine sitzende Gestalt. Shan hörte eine vertraute Stimme, die den Kindern erklärte, wie man aus einem Weidenzweig eine Pfeife anfertigte. Es war Jowa, der aufstand, als er Shan sah, und langsam den Kopf schüttelte. Er hatte Gendun und Lokesh nicht gefunden. Auch Marco war nirgendwo zu sehen.
Zu seiner Pelzmütze und der Sonnenbrille trug Shan mittlerweile eine Filzweste. Mit Batu und Malik als seine Führer schlenderte er umher. In der Mitte der Lager hatte man einen Marktplatz errichtet. Alte Frauen verkauften süße, in Öl fritierte Teigringe, die vor ihnen an Ranken aufgehängt waren. Für einen zusätzlichen Fen wurden die Ringe vorher noch in Zucker getaucht. Neben einem alten einäugigen Mann türmte sich ein Berg aus grünen Melonen auf. Anscheinend verkaufte er nicht besonders viel, weil er jedem Vorbeikommenden fröhlich
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