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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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loderten auf, während immer noch Angehörige der anderen Clans zum Lager des Roten Steins kamen, um hier gemeinsam kumys zu trinken. Sie aßen Hammeleintopf und Hartkäse, stimmten Gesänge an, und manche der alten Frauen führten rituelle Tänze auf, die keiner der Jüngeren mehr kannte. Marco und Deacon sprachen der vergorenen Milch ausgiebig zu und brachten einander neue Lieder bei. In einem der Zelte stieß Shan auf Mao den Ochsen und die schmächtige Frau, Mao die Schwalbe, die einen der kleinen Computer auf dem Schoß hatte. Sie begrüßte Shan mit einem Nicken und betätigte eifrig ein paar Tasten, während er sich neben sie setzte.
    »Dieses Neugeborenenprogramm«, sagte sie. »Ich habe uns einige Dateien der Brigade besorgt. Es ist keine lokale Angelegenheit, sondern findet überall im südlichen Xinjiang statt. Die Leitung liegt nicht bei Ko, sondern höher. Bislang hat man zweihundert Babys registriert und detailliert alle Muttermale vermerkt. Manche der Eltern wurden gebeten, sich gewissen Prüfungen zu unterziehen.«
    »Prüfungen?« fragte Shan.
    Mao der Ochse knurrte wütend. »Unter der Aufsicht von Politoffizieren«, flüsterte er, als würde es anläßlich des Fests einen Frevel darstellen, diese Worte laut auszusprechen.
    Der Mond stand schon hoch am Himmel, als einige Männer sich auf den Weg machten, um die Wachen auf den Hügeln abzulösen. »Erschießt niemanden, der weiße Pferde mitbringt«, rief Marco ihnen hinterher, und alle lachten. Jakli sagte, sie wolle zu Bett gehen, aber vom Feuer aus sah Shan, daß sie am Schlafzelt vorbeischlich und sich im Mondschein neben ihr neues Pferd setzte, das seine Nase an ihr rieb und ein leises zufriedenes Wiehern ausstieß. Jakli hatte einen Zettel in der Hand, und aus irgendeinem Grund wußte Shan, daß es sich dabei um den Brief handelte, den sie stets bei sich trug und der mittlerweile fast auseinanderfiel, weil er schon so häufig entfaltet und wieder zusammengelegt worden war. Ein Brief von ihrem Nikki.
    Bei Tagesanbruch weckte sie ein Donnern, gefolgt von aufgeregten Rufen und schließlich lautem Jubel. Jeder Kasache im Zelt schien das grollende Geräusch zu erkennen und rannte hinaus, während Deacon, Shan und die Tibeter allein zurückblieben, sich in ihren Decken aufsetzten und sich die Augen rieben.
    Pferde, unzählige Pferde galoppierten quer durch das Lager, mehr Pferde, als Shan je zu Gesicht bekommen hatte. Oder nein, wurde ihm klar, als er den Rufen der Hirten lauschte. Er hatte die Tiere in Yutian gesehen. Jemand hatte die kasachischen Herden befreit. Die Tore in Yutian hatten sich trotz der Wachen geöffnet, und die Pferde waren heimgekehrt.
    Kinder hüpften umher. Hunde jaulten. Gewehre wurden abgefeuert. Überall fielen Menschen sich in die Arme. Die Brigade habe letztlich doch nicht gewonnen, hieß es. Das sei Zhylkhysha Ata gewesen, rief jemand. Der Pferdegott habe die Kasachen des Südens nicht vergessen.
    Die Feier dauerte den ganzen Vormittag. Shan beobachtete die Jungen der zheli , die freudestrahlend durch die Herde liefen, als Gendun seinen Arm berührte und auf einen Hang oberhalb des Lagers deutete. Dort saß Lokesh vor einem großen Felsen und winkte sie zu sich heran. Als sie ihn erreichten, wies er aufgeregt auf einen wunderschönen runden Flechtenbewuchs direkt über ihm. Es war ein Mandala, ein Mandala der Gottheit, die in diesem Berg wohnte.
    Die beiden Tibeter nahmen zur Meditation davor Platz, während Shan sich auf einem Geröllblock am Fuß des Bergkamms niederließ. Er schaute Jakli auf ihrem weißen Pferd zu und mußte unwillkürlich lachen, als sie im Tal immer wieder an ihm vorbeiritt. Dann zog er das Stück Papier aus der Tasche, das er dem Toten im Lager Volksruhm abgenommen hatte. Ein weiteres Mal musterte er die merkwürdigen Abkürzungen und versuchte, den sonderbaren Code zu ergründen.
    Als er sich in der Sonne auf dem Felsen zurücklehnte, rief jemand seinen Namen.
    »Es gibt heute abend ein Festmahl«, sagte Jakli und klang dabei eigenartig schüchtern. Shan blickte auf und sah das weiße Pferd. Sie hatte es an einen Baum gebunden. »Ich möchte gern, daß Sie bei meiner Familie sitzen.«
    Shan nickte. »Ich fühle mich sehr geehrt.«
    »Es ist noch nicht vorbei, oder?« fragte sie nach kurzem Zögern und hockte sich neben ihn.
    »Der General kommt«, sagte Shan. »Der Mörder befindet sich weiterhin auf freiem Fuß. Der letzte Junge ist noch nicht in Sicherheit. Die Amerikaner.« Er hielt inne, als er

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