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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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rund hundert Überlebenden in die Grenzregion entlang des Kunlun-Gebirges gezogen. Das karge Land war aufgrund des rauhen Klimas nur dünn besiedelt und damals nahezu in Vergessenheit geraten. An einem solchen Ort hofften sie ungestört leben zu können und dem Zugriff der Behörden zu entkommen. Heute waren von dem Clan nur noch drei Familien übrig, die gemeinsam in einem Lager am Rand der Wüste lebten und dem Boden mit Mühe und Not ein bescheidenes Dasein abrangen. Tante Lau, erklärte Jakli, sei keine wirkliche Verwandte und auch keine Angehörige des Clans gewesen, sondern eine Kasachin, eine weise, herzensgute Frau, die beschlossen hatte, die zheli unter ihre Fittiche zu nehmen, und die von allen geliebt wurde.
    Von fast allen, hätte Shan beinahe hinzugefügt. »Zuerst dachte ich, Sie würden aus Tibet stammen«, sagte er.
    »Die Gegend hier ist schon seit vielen tausend Jahren ein Grenzgebiet, und das Blut der Völker hat sich vermischt. Mein Vater war Kasache. Akzu ist sein Bruder. Meine Mutter war Tibeterin. Sie starb, als ich noch ganz klein war. Mein Vater ist vor zehn Jahren spurlos verschwunden.« Jakli zuckte die Achseln. »Wenn ich kann, reite ich mit den Leuten meines Vaters. Im Frühling begleite ich sie gern in die Wüstenoase, um dort mit ihnen Kamele abzurichten.«
    »Sie sprechen sehr gut tibetisch.«
    »Mein Vater hat meine Mutter über alles geliebt und mich stets ermutigt, ihre Traditionen am Leben zu erhalten. Tante Lau war mir dabei behilflich, als sie von meiner Mutter erfuhr.«
    »Lau hat Sie in den buddhistischen Lehren unterwiesen?« fragte Shan.
    »Nicht wirklich. Die Entdeckung meines persönlichen Gottes könne ich nur für mich allein bewerkstelligen, hat sie gesagt. Aber sie kannte sich mit der tibetischen Lebensweise aus, so wie sie auch über kasachische und uigurische Bräuche Bescheid wußte. Sie sagte, es sei zwar wichtig, die von der Regierung propagierte neue Lebensweise zu verstehen, aber darüber dürfe man nicht die alten Traditionen vergessen.«
    Shan musterte die junge Frau und fragte sich, ob der Wortlaut dieses letzten Satzes von Lau oder von Jakli selbst stammte. Die von der Regierung propagierte neue Lebensweise zu verstehen bedeutete nicht, diese Lebensweise für sich selbst anzunehmen. »Ich wußte gar nicht, daß in Tibet auch Kasachen leben.«
    Jakli lächelte und sah ihn mit funkelnden grünen Augen an. »Nun, offenbar ist es aber doch so.« Sie drehte sich im Sattel um und deutete auf die Bergkette, die sie soeben hinter sich ließen und in deren Schutz der Raketenstützpunkt verborgen lag. »Allerdings ist dieser letzte Gebirgskamm dort die Grenze. Wir befinden uns in der autonomen Region Xinjiang.«
    Shan hielt an und ließ den Blick über die trockene, zerklüftete Landschaft schweifen. Der klare Himmel leuchtete kobaltblau. In seinem Rücken erstreckten sich vom östlichen bis zum westlichen Horizont die majestätischen schneebedeckten Zentralgipfel des Kunlun. In einer Lücke zwischen zwei Bergspitzen hatte er zuvor das gewaltige Karakorum-Gebirge erspäht, das am oberen Ende des Himalaja die fast unüberwindliche Grenze zu Indien und Pakistan darstellte. Nördlich von seinem gegenwärtigen Standort entdeckte Shan einen bräunlich flimmernden Schleier, den er nun als Ausläufer der Takla Makan erkannte, jener riesigen Wüste, von der das südliche Xinjiang dominiert wurde.
    Vor knapp vier Jahren hatte man ihn in diese Wüste verschleppt, und der Anblick der flirrenden Luft rief bei ihm verworrene Erinnerungen an Sand, Stacheldraht und Injektionsnadeln wach. Mochten die Kasachen in dieser Wüste auch ihre Kamele abrichten, das Büro für Öffentliche Sicherheit widmete sich dort völlig anderen Dingen. Man hatte Shan geschlagen und verhört und unter Drogen gesetzt und wieder verhört, bis von ihm nur noch eine leere, zitternde Hülle übrig gewesen war, mehr tot als lebendig. Dann hatte man sich seiner entledigt und ihn als menschliches Wrack in ein lao gai Zwangsarbeitslager nach Tibet verfrachtet.
    »Sind Sie schon mal in Xinjiang gewesen?« fragte Jakli, als würde sie ihm seine schreckliche Erfahrung ansehen.
    »Ich kenne Xinjiang nicht«, gab Shan schnell zurück und trieb sein Pferd an. Ihn überfiel die irrationale Angst, seine Folterer aus dem Wüstengefängnis könnten jeden Moment um die nächste Ecke biegen. Während seiner Haft bei den Kriechern hatte Shan einige Tage lang einen Zellengenossen gehabt, dem es gelungen war, aus einem der

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