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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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berüchtigten lao gai Straflager bei den Kohlengruben Xinjiangs auszubrechen, bevor man ihn in der Wüste wieder erwischte. Der Mann besaß keine Papiere, und niemand machte sich die Mühe, seine Abstammung zu überprüfen, was im Jargon der Kriecher bedeutete, die eintätowierte Registrierungsnummer des Häftlings zu ihrer Quelle zurückzuverfolgen und so die Geschichte seiner politischen Vergehen und das für ihn zuständige Arbeitslager herauszufinden. Einer der Offiziere bezeichnete ihn als »vogelfrei« und somit für die neuen Rekruten geeignet. Als Shan ihn zum letztenmal sah, kauerte der Mann nackt und mit den eigenen Exkrementen besudelt in der Ecke seiner Zelle und schlug mit dem Kopf gegen die Wand.
    Nachdem die Pilzschüssel bereits zwei Wegstunden hinter ihnen lag, erreichten sie ein kleines grünes Tal, an dessen Rändern Kiefern und Pappeln wuchsen. Die Tiere schienen plötzlich neue Kraft zu schöpfen und beschleunigten den Schritt. In einiger Entfernung bellte ein Hund. Die Pferde und Kamele begannen zu traben. Hinter einer Wegbiegung kam schließlich das Lager des Roten Steins in Sicht.
    Auf dem Grund des fruchtbaren Tals standen auf einer Lichtung drei runde Zelte aus dickem Filz. Hinter ihnen, vor einem steilen Hang, hatte man die Ruinen zweier Steingebäude mit provisorischen Dächern aus Segeltuch versehen und nutzte sie nun als Viehställe. Die Ruinen sahen anders aus als die Trümmerfelder, die Shan aus Zentraltibet gewohnt war. Hier wiesen die Steine und Ziegel weder Brandspuren auf, noch hatten die Bomben und Granaten der Volksbefreiungsarmee sie mit zahllosen Splittern verwüstet. An diesen uralten Häusern hatten lediglich der Zahn der Zeit und die Kräfte der Natur genagt.
    Die kleine Karawane der Neuankömmlinge wurde zunächst nur von einem Lamm bemerkt, das auf dem Pfad herumtollte, dann von einem jungen Mädchen, das ihm nachjagte. Sowohl das Lamm als auch das Mädchen stießen einen überraschten Schrei aus, drehten sich um und rannten zu den Zelten zurück. Vier große Hunde, darunter ein riesiger schwarzer tibetischer Mastiff, bellten erst warnend, liefen den Reitern dann aber freudig entgegen.
    Als Shan und Lokesh abstiegen, waren Akzu und Jowa bereits in dem mittleren Zelt verschwunden. Das junge Mädchen tauchte wieder auf und warf ihnen aus großen Augen neugierige Blicke zu. Drei Frauen, von denen eine das graue Haar mit einem rotkarierten Kopftuch zusammengebunden hatte, sahen von ihrer Beschäftigung auf. Sie saßen auf Decken am Boden und zerbrachen weichen Käse in kleine Bröckchen, damit diese in der Sonne trocknen würden. Die ältere Frau rief Jakli aufgeregt etwas zu, und eine ihrer jüngeren Gefährtinnen sprang auf, packte ein weißes Kleid, das an einem Ast hing, und lief in die mittlere Jurte. Am Eingang des Zeltes erschienen zwei Männer mit markanten wettergegerbten Gesichtern und buschigen schwarzen Schnurrbärten. Sie lächelten Jakli zu und bedachten Shan mit mißtrauischen Blicken. Das seien Akzus Söhne, erklärte Jakli, nachdem sie die beiden begrüßt hatte.
    »Jakli!« rief ein Junge von vielleicht zwölf oder dreizehn Jahren aus dem näheren der beiden Ställe, als die Frau ihr Pferd am Zügel auf die Lichtung führte. Quer über seinen Schultern lag ein Zicklein. Vorsichtig stellte er das Tier neben einer älteren Ziege ab, rannte dann zu Jakli und umarmte sie.
    »Mein jüngster Cousin Malik«, sagte sie zu Shan. »Er verbringt dermaßen viel Zeit mit den Tieren, daß wir ihn manchmal Seksek Ata nennen. So heißt der Schutzgeist der Ziegen.«
    Das Lächeln des Jungen wich einem angespannten Gesichtsausdruck. Als er Jakli dann zum zweitenmal in die Arme schloß, wollte er nicht seine Freude zum Ausdruck bringen, sondern getröstet werden, erkannte Shan.
    Jakli drückte ihn fest an ihre Schulter und küßte ihn sanft auf den Kopf. »Khitai war sein Freund«, sagte sie traurig.
    Aus dem linken Zelt ertönte ein wütender Aufschrei. Im Eingang stand eine Frau mit wirrem Haar und wildem Blick, wies auf Shan und rief zornig etwas in ihrer turksprachigen Mundart. Jakli stellte sich vor ihn, als wolle sie ihn vor der kreischenden Frau beschützen, und drängte ihn dann weg in Richtung der Ställe. Die Frau trat einen Schritt ins Sonnenlicht hinaus und schrie weiter hinter Shan her.
    »Sie ist verrückt«, sagte Jakli leise, als Shan sich erkundigte, was die Frau rief. »Sie sagt, Sie seien hinter den Kindern her. Sie sagt, Sie hätten die Kinder getötet.«

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